Der Tagesspiegel hatte gestern ein besonderes Schmankerl auf seiner Online-Präsenz zu bieten. Unter dem schönen Titel „Kutscher, was soll das werden?“ (Nebentitel „Desorientierte Taxifahrer in Berlin“) echauffiert sich eine offensichtlich gerne anonym bleiben wollende Journalistin* über eine Taxifahrerin, der das Fahrtziel nichts sagte und die daraufhin ein Navigationssystem zu Hilfe nahm. Die Route des Navis war dank Stau und Baustellen wohl alles andere als optimal. So weit, so ärgerlich natürlich.
Ein bisschen kurios würde ich das nennen, was dann folgt. Um es zusammenzufassen: Die Journalistin ärgert sich darüber, dass wir Taxifahrer immer weniger wüssten und dass wir das doch eigentlich gerade jetzt anders halten müssten, wo doch unser Beruf dank Car-Sharing usw. ohnehin immer mehr in die Ecke gedrängt würde.
Die Grundthese finde ich eigentlich ganz ok. Natürlich – das hab ich zum Anlass diverser „Taxitests“ ja auch immer wieder gesagt – steigt und fällt die Qualität einer Taxifahrt mit dem Fahrer. Ortskenntnis, Professionalität, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft – all das macht den Unterschied zwischen einer fantastischen und einer grottigen Taxifahrt aus. Weit mehr als das die Automarke z.B. vermag. Wieso man aber am Punkt der Nutzung eines Navigationssystems ansetzen muss, verschließt sich mir.
Ich bin auch froh um jede Tour, bei der ich das Navi nicht brauche, hier und da schalte ich es aber sogar dann mal ein. Das Drama fängt schon damit an, dass auch die werte Journalistin als Kundin im Taxi das Recht hat, den Weg zu bestimmen. Von diesem Recht Gebrauch gemacht hat sie offensichtlich nicht. Und tut sie das nicht, ist ihre Fahrerin schon gesetzlich an den kürzesten Weg gebunden. Gerade für solche Fälle sind Navis super! Man kennt die Adresse nicht wirklich, weiß nicht, ob man da von hinten oder vorne besser rankommt. Dafür gibt es die Teile. Pi mal Daumen nach Weißensee wäre die Fahrerin ziemlich sicher auch so gekommen. Natürlich wäre der Optimalfall gewesen, dass sie sich besser ausgekannt hätte und schnell noch eingeworfen hätte:
„Die Hauptstraße wäre zwar kürzer, aber wegen der Baustellen ist es hinten rum schneller. Kostet halt 80 Cent mehr.“
Ist toll, sowas – so wünsche ich mir meine Fahrten auch immer.
Aber genauso würde ich mir von Journalisten auch immer die Recherche wünschen, die ganz offensichtlich wie bei uns die Ortskenntnis eines der Hauptqualitätsmerkmale ist. Dadurch, dass ich im Taxigewerbe inzwischen einiges an Wissen gesammelt hab, schüttele ich immer wieder den Kopf und frage mich, wieso die Journalisten so ein einfaches Thema so grottenfalsch wiedergeben. Dabei sind die Fehler oft verzeihlich. Haben sie doch enormen Zeitdruck, werden schlecht bezahlt und haben einfach nicht die Möglichkeit, sich wegen eines Artikels übers Taxifahren in die Materie richtig tief einzuarbeiten.
Nun, das ist mit der Ortskenntnis aber nicht anders. Berlin hat eine Fläche von 891 km². Auf dieser Fläche liegen unzählige vermeintlich wichtige Punkte. Weit mehr, als sie ein Mensch erfassen, geschweige denn abspeichern könnte. Zumal sich vieles permanent ändert. Straßennamen vielleicht nicht so oft, bei Club- und Hotelnamen ist die Fluktuation aber beispielsweise legendär. Ich neige jetzt auch dazu, zu sagen:
„Naja, aber hallo: Weißensee, die Hauptstraßen … von Friedrichshain aus? Das sollte man aber doch wissen …“
Während das aber für die werte Journalistin vielleicht der Nabel der Welt ist, so könnte die besagte Taxifahrerin ihr hauptsächliches Arbeitsgebiet in Zehlendorf haben. Das wäre dann zwanzig Kilometer entfernt.
Ich war vor ein paar Stunden mal wieder in Spandau. Das ist – manche Berliner wird’s überraschen – noch Berlin. Den gesamten Bezirk sehe ich inzwischen allerhöchstens zweimal jährlich. Als Taxifahrer, bei dem das zum Pflichtfahrgebiet gehört …
Wenn wir jetzt noch vom „normalen“ Fahrer ausgehen, der diesen Job Vollzeit macht, sagen wir 55 Stunden die Woche – dann kommt der vielleicht in derselben Zeit viermal nach Spandau. (Oder, wenn er eher im Westen unterwegs ist nach Treptow-Köpenick)
Spandau hat aber 100 km², sicher 1000 Straßen und wahrscheinlich 300 bis 500 für eventuelle Kundschaft interessante Adressen.
Wann, so meine Frage an die Journalistin, sollen wir uns die Ortskunde dafür aneignen?
Ich denke, ich spreche für alle halbwegs an ihrem Job interessierte Kollegen, dass wir uns bemühen, unsere Arbeit gut zu machen. Aber ebenso wie man als Journalist heute wohl kaum noch umhinkommt, wenigstens ein Handy zu benutzen, eine eMail-Adresse zu haben oder mal in der Wikipedia was nachzusehen, haben auch wir nicht immer alles ohne Hilfsmittel im Blick. Und Taxifahren besteht ebensowenig daraus, einfach alle Straßen in Weißensee zu kennen, wie Journalismus nur daraus besteht, 26 Buchstaben halbwegs sinnvoll aneinanderzureihen.
Das Bundeskanzleramt – eines der Beispiele im Text – hab ich ehrlich gesagt noch nie anfahren müssen. Da weiß ich, wo es liegt. Immerhin. Bei der ein oder anderen Botschaft muss ich schon passen. Und sonderlich unwichtig würde ich diese Adressen nicht nennen. Aber hey, ich kenn die Preise von einigen Bordellen, ich kenne vielleicht einen guten Club für elektronische Musik in ihrer Nähe, weiß, dass in Marzahn diese oder jene Straße gesperrt ist, kann von mir zu Hause bis zum Sitz ihrer Zeitung alle Straßennamen und Richtungswechsel runterbeten, kann betrunkene Kerle zum Benehmen ermahnen, trauernde Frauen trösten. Ich kann den Fahrpreis im Vorfeld auf vielleicht einen Euro genau im Kopf ausrechnen, kenne alle 95 Stadtteile und tausende von Straßen. Das alles gerade mal fünf Jahre, nachdem ich nach Berlin gezogen bin und zum Vorzugspreis von lumpigen acht Euro pro Stunde, wenn’s mal ein halbwegs guter Tag ist.
Zu ihrer Adresse, sehr geehrte namenlose Journalistin, würde ich aber vermutlich das Navi anschalten. Denn wer weiß, was morgen in der Zeitung steht, wenn ich mich ausgerechnet in Weißensee vertun sollte und der Fahrpreis etwas zu hoch ausfällt …
*Ist nicht böse gemeint, aber ich hab den Namen zwischen all der Werbung und dem sonstigen Gedöns auf der Seite nicht gefunden.
Nachtrag: Inzwischen hat die Autorin einen Namen. Das war zum Zeitpunkt des Entstehens meines Artikels definitiv nicht der Fall.
Nachtrag 2: Bernd ist in seinem Taxiblog auch noch eine bissige Bemerkung zum Thema losgeworden.
PS: Danke an die vielen Hinweisgeber!