Will ich’s wissen? (2)

Da stand ich also. Mitten in einem Industriegebiet, der Regen wurde stärker und meine Kundin war um’s Eck. Abgehauen? Ich glaubte nicht daran. Sicher, dass sie offenbar kein Geld zum Bezahlen dabei hatte, davon war auszugehen. Aber sie würde ja kaum heulend und brüllend am Telefon hängen und durch den Regen stromern, wenn sie sich nur gerne mal umsonst von A nach B (noch dazu ein äußerst uneinladendes B) hätte bringen lassen wollen.

Als ich gerade ein paar Meter vorfahren wollte, um mal einen Blick ums Eck zu werfen, gab es ein Lebenszeichen von ihr. Nicht das beruhigendste, aber immerhin: eine Autoalarmanlage heulte auf und die Nische, in der sie verschwunden war, strahlte gelb-blinkend rhythmisch auf. Das war mir dann ehrlich gesagt zu sehr Tatort-Klischee, um es noch bedrohlich zu finden. 🙂

Während es aus der Nische hupte und blinkte, nahm ich in anderer Richtung, in 300 Metern Entfernung, eine Bewegung war. Eine trostlos müde Gestalt schleifte sich über den schlecht asphaltierten Boden in meine Richtung. Nicht ganz zombiehaft, aber doch ausreichend ähnlich, um mich zu amüsieren. Die Alarmanlage erlosch, startete kurz darauf erneut und erlosch wieder. Der Zombie kam immer näher. Ich stand inzwischen neben dem Auto und hab eine geraucht. Wenn schon versteckte Kamera, dann will ich wenigstens cool rüberkommen!

Zunächst tippelte ein Waschbär von rechts nach links über die Straße. Der Rücken krankhaft krumm, aber die Reaktion blitzschnell, als ich versonnen zweimal aufs Autodach trommelte. Und schon war er wieder weg! Der Zombie entpuppte sich beim Näherkommen schnell als desinteressierter Hausmeister, ganz offensichtlichen das Vorbild für Scruffy aus Futurama. Als er dann letztlich kraftlos an mir vorbeischlurft, trafen sich unsere Blicke kurz und beide sagten sinngemäß:

„Na, Du hast Dir ja auch ’ne bescheuerte Lokalität zum Arbeiten ausgesucht heute!“

Kurz darauf stapfte meine inzwischen klatschnasse Kundin wieder auf mich zu, offensichtlich unzufrieden. Ich öffnete ihr vorsorglich die Türe und sie nahm die Einstiegsmöglichkeit dankbar an. Ich selbst habe Kundschaft, die noch nicht bezahlt hat, ja auch lieber im Auto als irgendwo in einem Hinterhof.

„Soll es noch wo anders hingehen?“

flüstere ich geradezu.

„Ja, aba ei‘ Moment no‘!“

Weiterhin schluchzte sie vor sich hin und telefonierte. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt Interesse daran hätte, herauszufinden, was Sache war. Da sie aber mit Mühe versuchte, sich mir gegenüber normal zu verhalten, war ich inzwischen sicher, dass mir kein Ungemach drohte. An ihrer Stelle wäre mir vermutlich so langsam komisch vorgekommen, dass der Taxifahrer so ruhig bleibt. Aber für mich war das nur logisch: Zum einen hatte ich sicher 10 Minuten Wartezeit verschenkt, sah aber die Möglichkeit, für die Anschlussfahrt die Uhr mit Einstiegspreis und teureren ersten Kilometern wieder starten und den Verlust so amortisieren zu können. Zum anderen war ein ordnungsgemäßes Ende der Tour überall wahrscheinlicher als hier in diesem trostlosen Hinterhof, der von der Zivilisation so weit entfernt schien wie der Mond, der in diesem Moment hinter dicken Regenwolken gar nix zu melden hatte.

Es dauerte noch rund drei Minuten. Ich saß auf dem Fahrersitz, die Kundin direkt hinter mir. Ihr Gesicht im Innenspiegel erkennbar verheult und von ihrem Smartphone-Display erleuchtet, wenn sie nicht gerade telefonierte. Der Motor summte leise und der eklige Nieselregen plätscherte uninspiriert lautlos aufs Autodach. Gelegentlich schaltete ich den Scheibenwischer ein, einfach um diesen seltsamen Moment dramaturgisch wertvoller zu gestalten.

„OK, wi‘ gehe‘ zu’ück.“

„Zurück? Wieder zur Torstraße?“

„Ja.“

Bevor ich meine Zustimmung äußern konnte, hatte meine rechte Hand das Taxameter wieder eingeschaltet. Sehr gut, so eine zuverlässige rechte Hand zu haben!

Während die Kundin abermals telefonierte, hochaufgeregt und immer wieder mit Phasen des Weinens, fuhr ich recht stumm gen Innenstadt zurück. Mir war klar, dass ich gerade eine Nebenrolle in irgendeinem größeren Drama spielte und dass das eine der Fahrten sein würde, die niemand je schätzen zu lernen würde: Hinfahrt, erfolglos irgendwas versuchen, Rückfahrt. Am Ende sollten es 28,60 € Taxifahrt für ganz offensichtlich nix und wieder nix sein. Im Gegensatz zu so vielen Touren, bei denen man als Fahrer helfen kann oder Leute glücklich machen.

Natürlich war die Frage der Bezahlung immer noch offen. Dementsprechend hätte ich angespannt sein können. Wie bei der letzten Fehlfahrt z.B.
Aber um ehrlich zu sein: Ich war es nicht. Natürlich hätte ich mich aufgeregt, hätte ich das Geld nicht bekommen. Und natürlich wäre die gute halbe Schicht eine beschissene halbe Schicht geworden. Aber mir war das egal. Vollkommen. Vielleicht eine unterbewusste Blockade – ICH wäre es immerhin nicht, der die Nacht flennend durch Berlin rennt. MEIN Tag wäre immer noch besser als ihrer, selbst wenn sie mich jetzt abzockt …

Was für ein Drama sich da zwischen Mitte und Lichtenberg letzten Sonntag abgespielt hat, weiß ich immer noch nicht. Ich will’s vielleicht wirklich nicht wissen. Das Ende für mich jedoch war unspektakulär. Ich hielt, wo mir geheißen wurde, und meine Kundin zückte mit einer beachtlichen Selbstverständlichkeit ihr Portemonnaie, als ich bei 14,60 € die Uhr das zweite Mal an diesem Abend stoppte. Insgesamt 28,60 €, hier sind 30, stimmt so. Mein Tagessoll war damit erfüllt, und das sogar recht früh. Nur tanken musste ich immer noch. Aber irgendwas ist ja immer …

10 Kommentare bis “Will ich’s wissen? (2)”

  1. Carom sagt:

    Schlagzeile in den Berliner Gazetten von morgen: „Lichtenberg: Leerer Geldkoffer aus Millionenraub im Kofferraum eines abgestellten Wagens gefunden – Verdächtige Autoknackerin in Mitte festgenommen, ihre Komplizen werden noch ermittelt“
    (Mööönsch, wenn hier schon Thriller ist, dann richtig… Gut geschrieben, Sash, das war spannend und amüsant zugleich.)

  2. Abti sagt:

    Oh man klasse geschrieben. Das macht Lust auf mehr. Vielen Dank.

  3. Mic Ha sagt:

    Ich bin davon ausgegangen, dass die Dame einen Verwandten (bei der Weinerei vielleicht die Mutter) sucht, der sich dort neben dem berühmten, lichtenberger Vietnamesenmarkt verirrt hat. Sie hat denjenigen wohl vom Taxi aus gesucht und versucht zu lotsen.
    Hat schließlich nicht geklappt. Hoffentlich aber irgendwann dann doch 🙂

  4. hartmut sagt:

    Freudscher Verleser des Tages: „dressierter Hausmeister“

  5. elder taxidriver sagt:

    Ein alter Krimi heißt ‚Finale in Berlin‘ . Auf dem Buchcover wird der SPIEGEL zitiert:

    ‚Brillant konstruiert, extravagant stilisiert‘.

    Das kann man hier auch sagen.

  6. Toby sagt:

    Toll geschrieben Sash.

  7. Sash sagt:

    @Carom:
    Wie gesagt: Vielleicht will ich’s gar nicht wissen. 😉

    @Abti und Toby:
    Danke! 🙂

    @Mic Ha:
    So was in die Richtung hatte ich auch schon im Verdacht. Aber wie gesagt: Ich hab nicht den Hauch einer Ahnung …

    @hartmut:
    Aber ein sehr sauberer Freudscher. 🙂

    @elder taxidriver:
    Vielen Dank für diesen netten Vergleich! 🙂

  8. Crazee sagt:

    Das klingt jetzt vielleicht pathetisch: Du bist ein guter Mensch!

  9. Sash sagt:

    @Crazee:
    Ja, tut es. Aber ich hoffe, dass die Aussage trotzdem stimmt. 🙂

  10. Aro sagt:

    Du hast die arme Frau vermutlich in die falsche Herzbergstraße gefahren – sie wollte nach Neukölln…

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