Die Geschichten der Fahrgäste sind in guten Nächten definitiv die bessere Unterhaltung als Musik. So sehr ich es mag, ein bisschen mit aufgedrehter Anlage durch die Stadt zu fahren – das Gerede macht es doch irgendwie aus.
Schon die Menschen selbst. Da findet sich auf meinem Rücksitz plötzlich ein Kanadier, der mir erzählt, wie gerne er nach Europa wollte, seine Eltern das aber nie zuließen. Nun hatte er heimlich gespart und ist einfach so in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Paris geflogen. Dort ein Monat, dann zwei Wochen Amsterdam. Berlin gefiele ihm noch besser, hier jobbe er nun sogar für einen Monat, um sich anschließend noch eine Weile Prag zu gönnen. Und nebenbei hätte er es auch ausgerechnet von hier aus, der kleinen Bude in Weißensee, zu der ich ihn brachte, geschafft, sich mit seinen Eltern wieder zu versöhnen, so dass er seitdem Unmengen an Fotos mit ihnen austauschte und Orte hier in Berlin besuchte, an denen seine Eltern offenbar selbst in den 80ern mal waren.
Alleine in seinem kleinen Reisebericht lag ein ganzes Romanmanuskript versteckt, obwohl unsere Fahrt keine Viertelstunde dauerte. Mein Interesse an seinen Erzählungen quittierte er mit Abwinken und der Aussage, das sei noch gar nix. Ein Kumpel, mit dem er seit Amsterdam unterwegs sei, hätte eine Japanerin kennengelernt. Diese sei die Freundin eines japanischen Multimillionärs und sei auf eigene Faust in Europa. Mit dem Segen ihres Lebensabschnittsgefährten und dessen Kreditkarte, was sie im zarten Alter von 20 Jahren dazu verführt habe, binnen eines Monats 300.000 € auszugeben. Unter anderem für ein Pony. Was man halt im Urlaub so macht. 0.o
Für besagten Mann aber sei das ok. Der nutze jede Chance, Geld zum Fenster rauszuhauen, weil er selbst von seinen Eltern genötigt worden war, irgendwie innerhalb einer Clique von befreundeten Dynastien zu heiraten, damit das Familienerbe nicht am anderen Ende der Welt landete. Was er mit seinen Freundinnen, derer es wohl mehrere gab, zu umgehen versucht.
Man muss sicher vorsichtig sein, vorschnell als Wahrheit abzutun, was so auf dem Rücksitz des Taxis in der Nacht erzählt wird. Als Unterhaltung jedoch …
Natürlich gefällt einem auch nicht alles, was man hört. Manch einer entpuppt sich auch wirklich als Oberdödel. Aber wieso ausgerechnet die Kollegen so schnell genervt und gelangweilt von dem Job sind, die am Stand rumproleten, dass „die Olle dann zu quasseln angefangen hat, da hab ich gleich’s Radio lauter gedreht …“, glaube ich mit jeder Nacht ein bisschen mehr zu wissen. 😉
„rumproleten“ – was soll denn das? „rumlumpenproleten“ oder „rumprekarien“ könnte ich noch verstehen.
@Karl:
Das Proletariat ist mittlerweile von den Lumpen befreit, zumindest teilweise. 😉
Wow, das ist wirklich eine tolle Geschichte, ich hoffe er schreibt mal ein Buch über seine Erlebnisse!
‚Die Unterhaltung nicht vorschnell als Wahrheit abzutun‘: Natürlich .. Und die Wahrheit nicht vorschnell als Unterhaltung abtun..Manchmal steckt in einer faustdicken Lüge auch eine tiefere Wahrheit ( bloß welche?). Es gibt ein Buch von Louis Aragon: ‚Das Wahr-Lügen‘. Und der wohl berühmteste Spruch über die ‚Wahrheit‘ ist von einem Reporter namens Egon Erwin Kisch:
‚Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantastischer als die Sachlichkeit. Und nichts sensationelleres gibt es in der Welt, als die Zeit in der man lebt‘.