Das Letzte

Damit wären wir bei der zweiten erwähnenswerten Tour der Neujahrsnacht und das war zugleich meine letzte in jener Schicht. Da der Umsatz ja eher so mittel war und ich aber im Gegenzug auch einfach nicht müde wurde, stand die Sonne zu diesem Zeitpunkt bereits ein paar Grad über dem östlichen Horizont Berlins und die Uhr verkündete, dass der Jahreswechsel exakt neun Stunden her war. Ich hab die ganze Zeit bereits Richtung Heimat gezielt, aber doch eben immer wieder angehalten, wenn jemand den Arm reckte.

Der Arm um 9 Uhr war schmächtig; die dazugehörige, nicht sonderlich lebhafte Portion Mensch war ebenfalls nicht gerade aus einem Fitnessstudio entlaufen. Der deutlich jüngere Kerl mit allenfalls ersten Anzeichen für einen Bart hätte selbst bei tiefstehender Sonne lange gebraucht, um meinen mittäglichen Schatten zu werfen. Er warf sich auch reichlich matt auf den Beifahrersitz und orderte eine Straße in der Nähe des Bahnhofs Lichtenberg. Für mich grob die richtige Richtung, für ihn offenbar die Rettung. Passt schon.

Er war nicht übermäßig gesprächig, aber als ich ihn nach ein paar Minuten dann fragte, ob er einen über den Durst getrunken hatte, antwortete er mit „weiß nicht“. Ui.

„Aber K.O.Tropfen …“

„Bitte was?“

„Die Ärzte sagten, mir hätte wohl jemand was in den Drink gemischt. Ich hab einen Filmriss seit halb acht abends.“

„Äh, ok …“

„Irgendwer hat mich um Mitternacht bewusstlos ohne Jacke auf der Straße liegend gefunden. Keine Ahnung, wie ich da hingekommen bin.“

Sicher, ich hätte ihm auch zugetraut, dass er sich mit dem Alkohol ein wenig verschätzt hat, aber er kam ohne jede Fahne daher und hat wirklich eher wie auf anderen Drogen gewirkt. Seiner Story nach ist er  glatte 12 Stunden nach seiner letzten Erinnerung im Krankenhaus aufgewacht und wollte jetzt nur noch zu seinen Kumpels, die er dank abhanden gekommenem Handy bislang nicht erreicht hatte. Und schlafen wollte er unbedingt, die Kopfschmerzen seien unerträglich.
Ich hab ihn dann trotzdem recht dreist gleich nach Geld gefragt, denn wenn er wirklich außer Gefecht gesetzt worden war, dann hatte ich nicht gerade große Hoffnungen, dass …

„Keine Sorge. So etwa 15 € hab ich noch.“

Das sollte reichen.

„Alter, ich bin seit drei Tagen in Berlin. Das erste Mal. Ich dachte, wir feiern hier richtig gediegen Silvester und dann sowas …“

Ich, stets bemüht um den Ruf meiner neuen Heimat, hab eingeworfen:

„Aber nur mal nebenbei: Berlin ist manchmal übel, aber ich versprech‘ Dir: Das ist nicht repräsentativ!“

Lachen hat er immerhin noch können, sehr schön. 🙂

Am Ziel angekommen stellte sich heraus, dass er doch ein paar Euro weniger hatte als vermutet. Und 1,60 € weniger, als auf der Uhr standen.

„Oh, sorry. Ich dachte, das reicht. Kannst gerne meinen Geldbeutel durchschauen. Vielleicht hab ich was übersehen. Ansonsten geh‘ ich kurz zu meinen Kumpels, dann bring ich Dir den Rest schnell runter.“

Während ich des naheliegenden Verdachts und des freundlichen Angebots wegen tatsächlich kurz seine Brieftasche durchblätterte, öffnete er hektisch die Beifahrertüre, um sehr koordiniert, aber unter erheblich unschönen Bedingungen kleine Reste an Galle auf die Straße neben dem Auto zu kotzen. Ein Kollege fuhr verständnislos den Kopf schüttelnd an uns vorbei, ein Passant guckte angestrengt weg. Ich hab dem Typen seinen beinahe leeren Geldbeutel in die Hand gedrückt und gefragt, ob er ein Bonbon gegen den Geschmack haben möchte.

„Oh Mann, das wär echt super! Ich geh‘ dann kurz hoch und hol‘ den Rest der Kohle …“

„Du gehst jetzt hoch und schläfst Dich aus. Belassen wir es dabei, ok?“

„Äh, ich weiß nicht, ich …“

„Belassen wir es dabei. Gute Besserung!“

Keine Ahnung, ob seine Story der Wahrheit entsprochen hat. Zumal er sie ja selbst nicht wirklich kannte. Ich bin manchmal auch auf meine Menschenkenntnis angewiesen und ich bin damit bislang gut gefahren. Und die fehlenden 1,60 € waren ja schon durch das Trinkgeld des Reichis mehr als wettgemacht in dieser Nacht. Und sollte es der Wahrheit entsprochen haben, dass ihm irgendwer was untergejubelt hat, dann ist das wirklich das Letzte. Wir haben an diesem Morgen beide ein bisschen darüber geschmunzelt, dass man das ja eher so als Klischee aus meist schlechten Filmen kennen würde. Viele, denen sowas passiert ist, haben danach allerdings nicht so viel zu lachen. Da könnte ich selbst mehr kotzen als mein Fahrgast, wenn ich an sowas denke …

7 Kommentare bis “Das Letzte”

  1. nadar sagt:

    „Tolles“ Erlebnis, das der Fahrgast da hatte.
    An deiner Stelle hätte ich vermutlich ähnlich gehandelt.

  2. DB sagt:

    Das mit den KO-Tropfen wird meines erachtens immer mehr zum Problem, sie scheinen auch immer Planloser / Zielloser eingesetzt zu werden. Selbst hier auf dem Lande im Ländle.

  3. ELP sagt:

    Hier in Stuttgart warnt die Polizeit mittlerweile auch schon explitzit vor K.O.-Tropfen, und zwar „aus aktuellem Anlass“. Scheint auch hier gehäuft vorzukommen.

  4. impetrare sagt:

    @DB und ELP
    Ich denke hier wird mal wieder maßlos übertrieben.
    Ein befreundeter Toxikologe meinte mal das ca. 80% der „KO-Tropfen-Opfer“ eher einer Kombination aus Alkohol und anderen Drogen erliegen als das da irgent etwas in die Richtung deutet. Was nicht unbedingt bedeutet das sie sich absichtlich bewußtlos saufen, da immer mehr und mehr Psychopharmaka an immer jüngere Leute verschrieben werden. Und die Wechselwirkung von Lorazepam (einigen u.U. als Tavor bekannt) oder Mirtazapin hauen einen ganz schnell um.

    Bei den restlichen 20% geht er zum größten Teil von einer absichtlichen Intoxination mit GHB bzw. GBL aus, in den letzten Jahren werden auch zunehmend Rückstände von N-Methylamphetamin gefunden.

    Es ist natürlich einfacher zu Behaupten man habe irgend etwas in den Drink bekommen als zuzugeben das man ein (kleines) Drogenproblem hat.

  5. Panama Jack sagt:

    Oh Mann, nach so einer Aktion gleich

    1. direkt zu einem Fremden ins Auto steigen und dann auch noch
    2. Süßigkeiten von ihm annehmen.

    Hat der Junge denn gar nix daraus gelernt?

    PS: 😉

  6. Anubis sagt:

    @Panama Jack toller Kommentar. Habt direkt nach den GEFÄLLT MIR Button gesucht

  7. Draalo sagt:

    @panama jack: greates comment evaaa!!! 😀

    @Sash: hattest nicht zufällig „Jeanny“ von Falco parat? (http://www.youtube.com/watch?v=tuQLnwMEQQc)

    zu K.O.-Tropfen:
    Kumpel war „damals“ Sani bei der Bundeswehr – auf einem Lehrgang bekam er den Tipp von „erfahrenen“ Kameraden doch mal ein bestimmtes Btm, welches normalerweise zur Vollnarkose intravenös verabreicht wird mitgehen zu lassen, und 20-30 Tropfen oral zu sich zu nehmen und danach einen zu kiffen. Das wäre SupiDupiVollRelaxend, echt ehy…

    Die Tropfen hat er genommen, er ist rüber zu mir und wir haben einen gekifft. so nach 30 min. meinte er, er würde nix merken, bat mich um einen Löffel zucker und schmiss sich nochmal 20 Tropfen rein. (Ich habe dankend abgelehnt)

    Ca. 15 min später hat er sich verabschiedet, er wolle jetzt doch noch nach hause fahren (wegstrecke ca. 500m, dörfliche Gegend, das Auto kennt den Weg hier auch alleine…)

    3 min später klingelte mein Handy – er hätte es grad noch rechtzeitig geschafft rechts ran zu fahren, ich solle kommen und ihn nach Hause fahren — ich brauchte nicht weit laufen, 30m oder so… er war nur mit meiner Hilfe in der Lage auf den Beifahrersitz zu wechseln. Immerhin war er noch so klar das er das Zeug unterwegs aus dem Fenster geworfen hat mit dem Spruch „nie wieder…“

    Immerhin hat er draus gelernt, ausser kiffen hat er nie wieder was anderes genommen. (Und schon gar nicht beim Autofahren!)

    Vorwürfe brauchte ich ihm gar nicht machen, er hatte noch 2 Tage später einen Schädel mit dem er gerade eben so durch den Türrahmen passte 😀

    last not least: Sash, auch ich hätte auf das Restgeld verzichtet – allein die Vorstellung das er sich nochmal treppab und treppauf quällen muss… wäre der Betrag signifikant höher gewesen so dass man nicht drauf verzichten kann wäre ich mit zur Wohnungstür – deswegen und nicht wegen der Angst das er abhaut.

    Ich selbst habe Sylvester 1986/87 als Student auch ne Taxischicht gefahren – möchte diese Erfahrung nicht unbedingt heute wiederholen aber auch nicht missen. 7 Fahrgäste (eine Blondine hatte echt Spass drann sich quer über den Schoss der 4 hinten sitzenden Männer zu legen, der Beifahrer hatte immerhin seine Frau auf dem Schoss…) und einer im Kofferraum war mein Rekord auf einer Tour (Mercedes 200) – in 12h Schicht 360km abgerissen – glaube du kannst beurteilen was eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 30 km/h bedeutet, so mit Adresse finden (Navi? gabs nicht…) und ggf. auf Fahrgäste warten, ein- aussteigen, bezahlen etc…. und von 23.00 bis 0.00 hab ich nur gestanden…

    Wir haben damals übrigens Peer-to-Peer gearbeitet – auf unseren Rückturen haben wir alle Winker eingesammelt und in der Kneipe die sowieso immer bis 6.00 morgens geöffnet hatte abgesetzt, nachdem wir unsere Vorbestellungen abgearbeitet hatten (oder wenn wirklich mal Luft war zwischendurch) haben wir die alle von dort wieder weitergefahren. Allein das gab ca. 20,- extra Tipp

    Anstelle von 30,- – 60,- D-Mark habe ich in der Nacht 300,- verdient (ohne Tipp!) – und ausserdem habe ich an diesem Sylvester meinen neuen Chef kennengelernt. Den Ex-Chef möchte ich mal höflich als unappetitliche Körperöffnung beschreiben… Erst beim neuen Chef habe ich nämlich erfahren das es Provision gibt wenn man Gäste am Puff absetzt – der alte hat sich das die ganze 4 Monate die ich für ihn arbeitete immer schön selbst eingesteckt – das lag auch daran, das man dem Türsteher seine Visitenkarte mit taxi nr drauf gab – das Geld wurde dann wöchentlich überwiesen (echt! die haben das als Betriebskosten von der Steuer abgesetzt!)

    Das er Chef war wusste ich nicht, er ist halt nur an Tagen wie Sylvester/Schützenfest etc. auch selbst gefahren.

    Am 10. Januar, also nach meiner ersten Arbeitswoche, kam ich beim neuen Chef zuhause vorbei und war verwundert – mein Ford Escort war noch nicht da … passiert ja schon mal, hab erstmal ne Kippe geraucht. irgendwann rief er aus seinem Küchenfenster – ob ich nicht mal langsam anfangen wolle – und grinste dabei schäbig.

    Ich bin verwundert zu Haustür, dachte ja der ist noch auf Tour… da drückt er mir nen Mercedesschlüssel in die Hand … „hier, den hab ich heute abgeholt, mach nicht gleich ne Beule rein, das ist das Fahrzeug welches ich auch selbst nutze …“

    NAGELNEUER Mercedes (Tachostand 360km = Strecke vom Werk bis zum Einsatzort, die Uhr zeigte Gesamtumsatz = 0,00 DM an…), Blaupunkt Bremen drin, Restwärmeheizung, Autotelefon, neuester Funk, KEINE Sitzkontakte …. meine ersten beiden Touren hab ich mal als Gastbeitrag veröffentlicht – aber das scheint offline zu sein. Sash, schick mir ne mail wenn Du auch mal einen Gastbeitrag haben möchtest 😉 denn sonst wirds hier zu lang…

    PS: ich kiffe zwar gerne mal einen in meiner Freizeit, aber im Gegensatz zu meinem Kumpel war ich schon immer der Meinung „Arbeit ist Arbeit, Schnapps ist Schnapps…“

    PPS: es ist möglich dieses Antwortfeld bis in den Bereich der rechts stehenden Archivmonate zu vergrösern, ein verkleinern ist dann nicht mehr möglich. Stört mich nicht wirklich, habs nur grad bemerkt.

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