Temperamento germano

Als ich ins Licht trat, wollte ich meinen Augen kaum glauben:

„Eine Hauptstraße? Ehrlich? Was soll der Scheiß denn jetzt?“

Die Welt hatte sich eindeutig gegen mich verschworen, denn an dieser verfickten Stelle sollte der Bahnhof zum Umsteigen sein. Ich schwitzte, mein Reisegepäck hing mir schwer auf der Schulter und die Schmerzen in meinem Bein waren kurz vor der finalen Stufe „unerträglich“.
Bis vor fünf Minuten war die Sache noch einfach dumm gewesen, jetzt wuchs mir das alles über den Kopf. Fünf Tage zuvor war ich in Berlin aufgebrochen, das Ziel war zunächst ein Kaff im Rems-Murr-Kreis, danach ging es mit 20 Kids und 5 weiteren Betreuern nach Nordspanien. Eine Freizeit. Die Anreise kostete mich irgendwas um die 30 Stunden. Anstatt nun zwei Wochen Spiel und Spaß mit den Kindern zu genießen und eine schöne Zeit zu haben, hatte ich mich bereits am ersten Nachmittag am Strand verletzt.
Nachdem die ungefähr 105-jährige Ärztin am Campingplatz vor Ort mich aufgemuntert und via Behelfsdolmetscher (der gerne so ähnliche Worte wie Jacke und Hamsterkäfig verwechselte) eine Zerrung diagnostiziert hatte, wusste ich nun, ein paar Tage später, dass das Wadenbein durch war. Sauberer Bruch, soweit kein Problem – sagte zumindest der deutsche Arzt des Nachbarortes, nachdem er mich zweimal geröngt hatte:

„Wir müssen nochmal. Da hatte ich, hihi, wohl die Dosis zu niedrig eingestellt und sie sind ja schon etwas kräftiger gebaut …“

So sauber der Bruch auch war – und so angenehm die futuristisch anmutende verstellbare Schiene sein sollte: Ich hätte vielleicht voraussehen können, dass es sich mit einem gebrochenen Bein und zwanzig Kilogramm Gepäck nicht wirklich komfortabel durch die spanische Mittagshitze laufen lassen würde.

Da die Freizeit hauptsächlich aus sportlichen Aktivitäten bestand und ich zudem schon bei den rund 200 Metern zum nächsten Klo jedes Mal Höllenqualen litt, war mir ein frühzeitiger Heimflug organisiert worden. Am Tag des Barcelona-Ausfluges von ebendort. Nachdem ich mich von der Gruppe getrennt hatte, sollte ich laut Linienplan mit einmal Umsteigen zum Flughafen kommen. Zeit hatte ich ungefähr sieben Stunden, da war die Planung großzügig.

Und ja, da stand ich nun. Mitten in der Stadt auf irgendeinem Prachtboulevard, auf den ich gelangt war, nachdem ich versucht hatte, der spanischen Beschilderung zum Gleis der Flughafenlinie zu folgen. Meter um Meter bin ich einem endlosen Tunnel ins erlösende Licht gefolgt, nur um am Ende festzustellen, dass ich mich zwar tot fühlte, aber immer noch in Barcelona war. Und zwar offensichtlich weit entfernt von meinem Gleis. Wo ich stand, deutete nichts auch nur auf die Existenz eines schienengeführten Verkehrsmittels hin.

Also beschloss ich, mich an die straßengebundenen zu halten.

Ich winkte das nächstbeste Taxi heran und wurde mit einem unwahrscheinlich lauten und enthusiastischen Wortschwall auf Spanisch empfangen. Ich wollte eigentlich schnell einwerfen, dass ich nur deutsch und englisch spreche, aber ich musste mir den Monolog erst einmal anhören, bis ich unterbrechen konnte. Mein Gegenüber war eine zierliche kleine Frau mit langen schwarzen Locken, eher groben Gesichtszügen und einem geschätzten Alter von etwa 40 Jahren. Meinen Einwand, ich wäre leider nur ein Tourist aus Deutschland und könne allenfalls auf Englisch kommunizieren, beantwortete sie mit einem weiteren Monolog, der sich nach nur ungefähr anderthalb Minuten tatsächlich als etwas entpuppte, das sie für Englisch hielt. Aber was hätte ich erwarten sollen? Ich war ehrlich gesagt verdammt froh, dass sie mich überhaupt verstand. Meine Spanischkenntnisse waren zwar nach dem Studium des Linienplans zwar um 20% umfangreicher, was aber lediglich hieß, dass ich nun außer „dos cervezas por favor“ auch „aeropuerto“ sagen konnte. Wobei ersteres bei der Frau sicher auch lustig geworden wäre.

Gemeinsam haben wir mein Gepäck in den Kofferraum ihres runtergerockten 124er-Mercedes gewuchtet, danach hab ich auf einem leicht ins gräuliche abdriftenden Fellbezug auf dem Beifahrersitz Platz genommen. Meine Fahrerin hat mir extra den Sitz weitestmöglich zurückgestellt, damit ich mit möglichst ausgestrecktem Bein sitzen konnte. Im Grunde konnte ich sowohl sitzen als auch stehen – geschmerzt hat vor allem das An- und Abwinkeln im jeweiligen Moment.
Ich erklärte ihr, warum und dass ich zum Flughafen wollte, was sie mit enthusiastischen Sätzen quittierte, die ich allenfalls zur Hälfte verstehen konnte.

Aber – und das muss man wirklich sagen – sie war nett und zuvorkommend. Aber eben auch sehr gesprächig.

Dass sie das „temperamento germano“ zu schätzen wüsste und deutsche Autofahrer bewunderte, war allenfalls halbironisch gemeint. Denn beim Fahrstil orientierte sie sich alsbald an deutschen Autobahndränglern der schlimmsten Sorte. Dass ich mehrere Stunden Zeit hatte, wusste sie – zumindest hatte sie vorgegeben, mich zu verstehen. An der Sache geändert hat das nichts. Hoffe ich zumindest. Denn sollte das, was mir in den folgenden 25 Minuten passiert ist, die harmlosere Variante sein, dann Hut ab vor allen, die den Normalbetrieb überlebt haben!
Dank des dichten Verkehrs war es kaum möglich, schneller als 100 km/h zu fahren, das jedoch tat sie konsequent. Ich hab, damals selbst auf dem Weg zum Taxifahrer, plötzlich einige erweiterte Kenntnisse über die Fahrphysik von Autos kennengelernt. Zum Beispiel wusste ich nicht, dass sich Spurwechsel auch tätigen lassen, wenn die auf der zu erreichenden Spur vorhandenen Lücken zweifellos kleiner sind als das Auto, das man in sie hineinquetscht. Und bezüglich Multitaskingfähigkeit lag die Dame auch weit vorn, immerhin beherrschte sie es, gleichzeitig zu hupen, zu drängeln, währenddessen zu bremsen und mir eine Zigarette anzubieten.

Ich bin kein schreckhafter Beifahrer, aber während der vielleicht knapp zwanzigminütigen Fahrt hab ich das Bodenblech auf der Suche nach einer Bremse soweit durchgetreten, wie es nur ging. Was die gute Frau nicht davon abbrachte, mir nebenbei und den Blick von der Straße nehmend zu berichten, wie sehr sie an den Deutschen schätzen würde, dass die so zivilisiert fahren würden. Nee, is‘ klar!

Abgesehen von der ein oder anderen Nahtoderfahrung hab ich die Fahrt aber in guter Erinnerung. Die Fahrerin half mir, wo es nur ging, war nett und bemüht und die 19 €, die das alles kostete, schienen zumindest mal nicht allzu überteuert zu sein. Ob ich damit richtig liege, weiß ich ehrlich gesagt bis heute nicht, da ich ja nicht einmal weiß, wo ich sie rangewunken habe.

Auf den Flug musste ich wie eingangs erwähnt ewig warten, erschwert durch die Tatsache, dass ich – das wird sicher eigene Blödheit gewesen sein, das ist mir klar! – in all den Stunden keine Uhr gefunden habe. Dass ich meinen Sitzplatz wegen meines geschienten Beines wechseln musste, mutete irgendwie absurd an, im Gedächtnis behalten habe ich aber eher den phänomenalen Start von Barcelona aus: Der Blick auf Meer und Küste, wenn das Flugzeug die erste Schleife fliegt, ist unbezahlbar.

In Berlin landete ich kaum anderthalb Stunden später in Tegel. Von dort aus hab ich kein Taxi genommen, sondern den Bus. Wahrscheinlich, weil es mir sicherer vorkam. Ein gebrochenes Bein war schlimm, sterben wollte ich dennoch lieber erst später …


PS: Ich hab die Tage viel um die Ohren und arbeite ausnahmsweise trotz Wochenende nicht. Nicht ohne Grund hab ich jetzt eine Geschichte von 2008 geschrieben. Wird die Tage also etwas ruhiger. Aber keine Panik: Ich komme wieder! 🙂

12 Kommentare bis “Temperamento germano”

  1. kistenfrosch sagt:

    Sowas passiert also wenn der gute alte Sash aus dem Taxi steigt? Dann bleib lieber doch dadrin und erfreu uns mit neuen und schönen Geschichten 🙂

    Dem Beinchen gehts ja hoffentlich schon lange wieder gut 🙂

  2. hartmut sagt:

    Die Ubahn-Verindungstunnel in Barcelona sind aber auch wirklich lang und unübersichtlich (gefühlt kann man da beim Umsteigen schon mal ’nen Kilometer laufen) … und der Innenstadtbahnhof mit dem Gleis zum Flughafen … also ich hätte das Gebäude nicht als Bahnhof erkannt (Sackbahnhof und die Gleise auf mehrere hundert Meter von beiden Seiten umbaut) … ohne ortskundige Begleitung wäre ich da damals auch gescheitert …

    An den Flughafen erinnere ich mich kaum noch, außer das die Checkin-Crew irgendwann einfach trotz noch vorhandener Schlange verschwand weil sie gleichzeitig auch die Gate-Crew waren …

  3. Klaus der Pälzer sagt:

    Hi Sasch,
    Erst mal gute Besserung.
    Mit 19€ bist du recht günstig weggekommen. Ich habe in BCN zum Flughafen immer zwischen 22 und 30€ bezahlt. Je nach Startpunkt.
    Ubahn wechseln ist manchmal verwirrend, schlimmer fand ich da nur London. und ja der Bahnhof ist auch nicht besser, ich bin damals an einen Schalter gegangen und die nette Dame hat mir nen Plan gemalt 🙂
    Alles Gute und schnelle Gesundung

  4. HaKa sagt:

    Kaff im Rems-Murr-Kreis?
    Sehr fein, welches denn genau? 😉

  5. elder taxidriver sagt:

    Des dät mi au intressiere, damit mer’s a bizzele woiß..

  6. Stardy sagt:

    Oh Mann!
    Danke für dein PS… ich dachte schon „Himmel, was macht der Sash denn da, und warum hab ich nicht mitbekommen, dass er nach Spanien fliegt? Ich lese doch (fast) jeden Tag“….
    2008… puuhh…..

    😉

  7. Taxi 123 sagt:

    Was zuerst nur wie ein Alptraum klang, hat sich dann noch als wahre Begebenheit aus Deiner Jugend entpuppt. 🙂

  8. Klaus der Pälzer sagt:

    … und ich Doof hab das PS irgendwie überlesen

  9. Sash sagt:

    @kistenfrosch:
    Sicher. Seit lange bevor es GNIT gab. 🙂

    @hartmut:
    Ich kann leider auch nur mit dieser sehr singulären Erfahrung aufwarten …

    @Klaus der Pälzer:
    Passiert. 🙂
    Aber dennoch danke für die Genesungswünsche!

    @HaKa und elder taxidriver:
    Es spielt zwar keine Rolle, weil es nur ein Sammelpunkt war, aber weil ihr’s seid: Es war Backnang.

    @Taxi 123:
    Ach, so jugendlich war ich da mit 26 Jahren auch nicht mehr … 😉

  10. HaKa sagt:

    Meine Geburtsstadt – nice 🙂
    Bei „Kaff“ dachte ich jetzt eher in der Kategorie „Althütte“, „Großer Lach“ oder so

  11. Sash sagt:

    @HaKa:
    Ich war da unten ja in einigen wirklichen Käffern. Aber hier war es halt Backnang und nicht Mittelfischbach.

  12. Kittel sagt:

    Ich bin in Spanien auch ein paar Mal Taxi gefahren und habe nichts schlimmereserlebt, als in anderen südeuropäischen Ländern, von daher bist Du wohl an ein besonderes Exemplar der Gattung Fahrerin geraten..
    Ich fliege in einer Woche kurzfristig</a< in die Türkei und bin schon gespannt auf den dortigen Strassenverkehr 🙂 Wahrscheinlich irgendetwas zwischen Bioshock und Super Mariocart..

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