Man glaubt mit der Zeit, für jeden Fahrgast irgendwie bereits eine Schublade angelegt zu haben. Damit meine ich gar nicht die großen Vorurteile und das, was man gemeinhin negativ mit Schubladendenken assoziiert. Aber ein bisschen hat man hinterher ja doch immer eine Einordnung parat. Hier der betrunkene Tourist, der nicht genug von der Stadt sehen kann – dort ein deprimierter Rentner. Hier eine erschöpfte Nachtarbeiterin – dort wieder ein verplanter Dauerschläfer.
Das eine oder andere Klischee wiederholt sich dann auch in der Realität ständig, man ist geradezu gezwungen, sich solche Gedanken zu machen…
Den Typen, den ich in Prenzlauer Berg an der Danziger Straße eingeladen habe, hätte ich in die Kategorie „müde Selten-Ausgeher“ gesteckt. Endlich mal ein freies Wochenende, die Kinder irgendwo verstaut, die Frau mit Ausreden zu Hause gelassen und mit den Kumpels mal einen draufgemacht. Bis um 2 Uhr! Mann mann mann!
So ganz richtig lag ich damit nicht. Zunächst war auffällig, dass der Kerl nüchtern war wie ein Rudel Dreijährige. Und dazu hatte er überhaupt keinen Plan. Von gar nix. Man darf sich jetzt mal vorstellen, wie ich an einem Freitag Abend mit einem Anzugträger im Taxi von Prenzl’berg nach Friedrichshain fahre. Gemütlich haben wir die M10 überholt, die wie immer maßlos überfüllt war. Am Straßenrand standen in kleinen Gruppen immer wieder betrunkene Jugendliche, manche davon wahrscheinlich bewaffnet. Aus der ein oder anderen Kneipe drang noch Musik nach draußen, zwei getunte Golf überholten uns, indem sie mittels ihrer Subwoofer um die Wette hüpften. Und dann fragte mich der Kerl ehrlich folgendes:
„Is jetzt überhaupt noch was los in Berlin?“
Man muss dazu sagen, dass ich die Stunden zwischen etwa 0 und 2 Uhr am Wochenende gerne tote Stunden nenne. Während dieser Zeit sind offenbar die meisten Leute da, wo sie hinwollen. Folglich brauchen sie kein Taxi. Erst nach 2 Uhr wollen dann die ersten langsam nach Hause, dann geht das wirklich lukrative Wochenendgeschäft endgültig los. Aber in diesen toten Stunden ist in Berlin immer noch mehr los als in einem durchschnittlichen Apple-Store bei der Vorstellung des neuesten iPhones oder in einer Kleinstadt das ganze Jahr über.
So ähnlich hab ich das auch meinem Kunden mitgeteilt, woraufhin dieser erstaunt fragte:
„Echt? Hätte ich ja nicht gedacht.“
Wo der Mann herkam, bzw. wie lange er schon in Berlin lebt, weiss ich nicht. Hab ich nicht gefragt. Aber wie kann jemand bitte auf die Idee kommen, hier wäre am Wochenende um 2 Uhr bereits Feierabend? Wie nenne ich diese Schublade jetzt? Für die Dorfkinder-Abteilung ist er echt zu alt und zu sehr verplant gewesen…
Wenn er nicht direkt aus Berlin kommt, könnte ich das glatt verstehen. In der Provinz klappen um 24 Uhr die Bürgersteige hoch, da ist dann einzig in der verranzten Dorfdisco noch was los und da möchte man spätestens dann nicht mehr hin, sobald das eigene Alter mit 2 beginnt. Selbst in einer durchaus größeren Stadt (knapp 300.000 Einwohner) ist es mir schon untergekommen, dass ich mit einer Bekannten unterwegs war und um kurz vor 2 der Kellner meinte „Soo, letzte Bestellung bitte!“ Um Punkt 2 Uhr wurden wir dann aus der Kneipe geschmissen und der Türsteher des Schuppens gegenüber teilte uns dann mit, wir bräuchten garnicht zu versuchen, noch irgendwo reinzukommen, denn um 2 wäre Sperrstunde. Da ist mir dann doch die Kinnlade runtergefallen. Und nein, das war nicht in Bayern und auch nicht an nem hohen Feiertag…
Davon abgesehen würde ich auch getunte Golfs und bewaffnete, besoffene Jugendliche nicht als „noch was los“ interpretieren, sondern nur denken „ich will raus aus diesem Ghetto“.
Vielleicht scheint ja durch seinen Kopf die Sonne!? 😀
Realitäts- und Wahrnehmungsverlust ist doch ein beliebtes Hobby.
Ab einem gewissen Alter und einen gewissen Lebenskonstellation ist das eben so: Man hat die Gelegenheit, das Geld, so ein bisschen Schwung – und dann geht man raus und denkt, dass das Leben die letzten 10 Jahre ohne einen selbst getobt hat. Und dann merkt man, dass man für die alten Läden (sofern sie noch existieren) zu alt, für den Seniorentanz und Ü-40-Parties aber bei weitem aber noch zu jung ist.
Das ist die Lebensphase arbeitend – verheiratet – mit Kind(ern). Als Häuslebauer hat man da noch Glück, mit einer guten Gemeinschaft hat man wenigstens die wöchentlichen Grillabende im Sommer und die Tupperparties im Winter.
@MichiK:
Das Interessante war eigentlich, dass er selbst gar nicht weggehen wollte. Der wollte nur wissen, ob „was los“ ist. Deswegen finde ich, kann man so Dinge wie bewaffnete Jugendliche durchaus mit einbeziehen 😉
@alltagimrettung:
Aber nicht zu der Tageszeit 😉
@Der Maskierte:
Klar, bei wem nicht? 😀
@Petra:
Naja, aber gerade dann kriegt man doch mit, was man alles „verpasst“…
Es stellt sich mir nur die Frage, warum so viele Menschen Angst haben, etwas zu verpassen. Klar gibt es tolle Sinneseindrücke, aber sterbe ich denn unglücklicher, wenn ich die verpasst habe, wenn mein Leben sonst mit Dingen angereichert habe, die mich erfüllen?
Das sind die Fragen, die sich bei mir immer so aufwerfen.
@Der Maskierte:
Ach, die alte Frage, ob man nun möglichst viel mitnehmen soll oder auch mit weniger zufrieden ist. Ich denke, das muss jeder für sich selbst rausfinden.
Der kam aus München! Ganz sicher. *seufz*
@Dynamodeo:
Aber zumindest schien er hier zu wohnen…