Auf dem Heimweg

Kurz bevor ich auf den Knopf drücke, sehe ich fast schon automatisch auf mein Handy. 4:23 Uhr. Wieder zwei Minuten zu spät. Ich bin nicht kleinlich bei zwei Minuten, aber in den letzten zwei Wochen ist keine meiner Straßenbahnen pünktlich gewesen. Dieses Mal empfängt mich die BVG immerhin mit einem frisch geputzten Wagen und einem etwa 1,90 m großen Jugendlichen, der mit zwei Mädels unterwegs ist und einen scheinbar Fremden, dessen Gesicht ich nicht sehen kann, lautstark darüber aufklärt, dass er „und die beiden Hübschen hier“ hackedicht seien.

Zwischen ihnen und dem Fahrerkabuff steht quer zur Fahrtrichtung eine offensichtlich blinde und schon reichlich betagte Rollstuhlfahrerin, die die Eskapaden des lauten Kerls mit stoischer Miene hinzunehmen scheint. Direkt neben der Türe, durch die ich die M6 betrete, übersehe ich eine junge Frau, die sich halb schlafend gegen den Fahrkartenautomaten lehnt.

Entgegen der Fahrtrichtung, also nach links, steuere ich auf einen freien Viererplatz zu, muss dazu aber zwei Pärchen passieren. Rechts, auf einem von zwei Einzelsitzen, ein Mittdreißiger mit stolzen 30 cm rotem Bart unterm Kinn; Käppi, Kutte und komplett in schwarz gehüllt. Neben ihm die Freundin oder Frau, ebenso wie er eher kompakt gebaut und von Kopf bis Fuß in schwarz. Dreadlocks bis zum Hintern, ein Blazer verdeckt die Hälfte des Bandshirts, das sie darunter trägt. Beide sitzen sie aufrecht wie in der Schule und scheinen dem Treiben im Vorderteil des Wagens zu folgen. Links ein ungleiches Paar. Er stiernackig, mit weinroter Bomberjacke und einer Frisur, wie sie die meisten Freizeitnazis tragen. Dazu aber eine Brille, die ihm Intellektualität zu verleihen scheint. Sie – auf dem extrabreiten Einzelsitz eng an ihn geschmiegt, wasserstoffblond und vom Aussehen her 10 Jahre älter. Weiße Klamotten, die Haare pitschnass. Woher auch immer. Sie gibt das perfekte Gegenstück zur 2 Sitze weiter postierten Metalbraut ab.

Hinter jenem Pärchen ein Typ in meinem Alter. Muskulös, nüchtern, mit harten Beats auf den Ohren dezent nickend und seine Playlist weiter durchforstend. Als ich mich hinter die Schwermetaller setze, ist das die Szenerie, die ich überblicke. Bis auf die Rollstuhlfahrerin, die verschwindet hinter dem lauten Typen mit hellblauem Kapu und bunt gemusterten Bermuda-Shorts, der gelegentlich aufspringt und dem anderen Typen irgendwas zeigt. Vielleicht auch nur, weil es etwas kalt für kurze Hosen ist. Draußen hat die Dämmerung erst begonnen, der Sonnenaufgang sollte erst in einer halben Stunde erfolgen, die Außentemperatur lag Minuten zuvor laut meinem Autothermometer bei 13°C, in der Bahn läuft zudem die Klimaanlage auf höchster Stufe.

Unmittelbar aus einem Gespräch über Wodka unter den Jugendlichen schreit der blaubunte Typ plötzlich:

„Fick die BVG!“,

nur um aus der Reihe der Mädels gesagt zu bekommen:

„Ey, des hast Du jetzt gesagt, das ist nicht meine Meinung!“

Nur seinen Rücken sehend, erahne ich, dass der Kerl in schwarz seine Muskeln anspannt, er befürchtet offenbar Stress. Seine Frau und er blicken sich für einen Moment gegenseitig an und beide schütteln sie unbemerkt von den meisten sachte ihre Köpfe. Nicht ganz synchron, wie sicher 2 Stunden zuvor auf irgendeinem Jugendhauskonzert, aber sichtbar aufeinander abgestimmt. Der muskulöse Glatzkopf neben mir findet ein schnelleres Lied und überbietet die beiden in ihrer Frequenz. Auf seinem Sweatshirt steht der Name eines Installateurs. Frühschicht, schätze ich.

Während ich meinen Blick Müdigkeit vortäuschend durch die Runde gehen lasse, entdecke ich erstmals die junge Frau am Fahrkartenautomaten, die just in diesem Moment die Augen öffnet und ihrem ablehnenden Wegdrehen nach etwas zu viel in diesen flüchtigen Blickkontakt hineininterpretiert. Sie beginnt damit, sich unzureichend schlafend zu stellen. Käpt’n Blaupulli lässt die ganze Bahn wissen, dass es jetzt mit der Party erst losgehe.

An einer Haltestelle steigt ein Pärchen ein, außerhalb meiner Sichtweite, hinter mir. Offenbar irritiert vom frisch geputzten Boden der Straßenbahn kreischt sie:

„Igitt, was’n hier passiert?“,

während ihr Begleiter mit den Worten

„Was weiß ich?“

an mir vorbeimarschiert und die beiden sich hundemüde rücklings zu den lauten Jugendlichen auf jeweils eine eigene Seite setzen. Sie nickt umgehend ein, er versucht die nächsten anderthalb Minuten mit seiner adretten Kleidung und ausgeprägtem Augenbrauenheben auf die Wodka-Wodka-Rufe hinter sich zu reagieren.

Ein Schwall klarer Flüssigkeit spritzt auf den blauen Pulli des Wortführers im Frontabteil, vielleicht ja der Wodka. Er springt auf und droht dem die Schandtat vollziehenden Typen Prügel an:

„Ich kenn den Türsteher von dem Club da drüben!“,

was allerdings im Gelächter untergeht, da die Mädels ihn darauf hinweisen, dass der „Club“ ein Ikea sei. Die beiden Rocker erheben sich bedeutungsschwanger, gehen aber doch nur zur nächsten Tür, um kurz darauf auszusteigen. Herein kommt ein verplanter hagerer Typ mit Brille und Dreitagebart, der sich keinen Sitzplatz sucht, sondern glasig dreinblickend an seinem sicher nicht ersten Berliner Pilsner nuckelt, während er versucht, aufrecht zu stehen. Da der metallische Sitzplatz zunächst leer bleibt, windet sich die Blondine des Brillennazis aus ihrer Enge und setzt sich für seine Begriffe ein wenig zu energisch weg von ihm. Er quittiert das mit einem Schulterzucken, sie schmollt nun anderthalb Meter vor mir theatralisch.

Erst drei Stationen später fasst er sich ein Herz und flüstert:

„Un‘ nu? Hier aussteijen?“

Da er außerstande ist, ihr darauf erfolgendes Schulterzucken zu interpretieren, verschränkt er die Arme vor der Brust und starrt, so lässt seine Kopfbewegung erahnen, provokativ auf die BVG-Heftchen mit den Baustelleninformationen.

Ich  muss so langsam aussteigen und stehe auf, woraufhin der schwankende Dreitagebart ungläubig meine Größe zu erfassen versucht, sich dabei verschluckt und einen Hustenanfall bekommt. Dass ich die Haltewunschtaste betätige, scheint zumindest die weiterhin scheinschlafende am Fahrkartenautomaten kauernde junge Dame zu beruhigen und im lauten Abteil werden die wirklich interessanten Gespräche geführt:

„Was wäre denn, wenn wir jetzt sagen würden, dass wir lesbisch sind?“,

fragen die beiden Damen kichernd den Helden in blaubunt. Aufgerissener Mund, große Augen – und:

„Das wär‘ geil!“

Die Bahn hält, ich drücke den Knopf und bin raus. Im Vorbeigehen stelle ich fest, dass die Dame im Rollstuhl lächelt. Ich laufe bei meinem Döner ein, um mir eine Schachtel Zigaretten zu ziehen.

„Is‘ ruhig heute hier …“,

meint der Mann aus der Nachtschicht.

„Ach, draußen auch.“,

beruhige ich ihn. Was auf die vergangene Schicht im Taxi überwiegend zutrifft. Aber es fährt ja nicht jeder mit dem Taxi nach Hause.

Was man als Taxifahrer wissen muss

Nicht ganz der Brockhaus, aber immerhin. Quelle: Sash

Nicht ganz der Brockhaus, aber immerhin. Quelle: Sash

Um ehrlich zu sein: alles, was in diesen Büchern steht, wissen wir nicht. Dafür wahrscheinlich einiges anderes und aktuelleres. Aber wo ich die Bücher so repräsentativ bei meinen Chefs gesehen hab, musste ich unwillkürlich an GNIT denken … 🙂

Das erste Taxi nehmen

Ich sage es ja auch immer wieder gerne: Man muss nicht das erste Taxi am Stand nehmen!

Ja, es gibt Kollegen, die das immer noch behaupten und es ist natürlich prinzipiell auch nett, weil der erste am längsten wartet. Aber als Kunden seid Ihr Könige und wenn Euch z.B. ein bestimmtes Auto besser gefällt oder ein Fahrer sympathischer ist als die anderen, dann nehmt Euch die Freiheit! Ich hoffe zwar, dass nicht zu viele dabei alberne Kriterien wie die Hautfarbe des Fahrers oder eine abgefallene Radkappe bei einer ansonsten gepflegten Luxuslimousine ansetzen, aber erlaubt ist, was gefällt.

Passend zum Thema hat mir Dirk Fotos aus Frankfurt am Main gemailt, und dort wird das so ernst genommen, dass eigens Schilder am Taxistand darauf hinweisen:

Eins, zwei oder drei? Ob Ihr wirklich richtig steht, seht Ihr, wenn … Quelle: Dirk

Eins, zwei oder drei? Ob Ihr wirklich richtig steht, seht Ihr, wenn … Quelle: Dirk

Was ich hier als voll verschärfte Realsatire empfinde, ist übrigens, dass diese Schilder fast den Einstieg in die zweite Taxe verhindern … 😀

Frohes Fest!

Nun ist Weihnachten also gekommen – das Fest, an dem wir uns wie jedes Jahr alle in die Heimat unserer Eltern begeben, um dort die IT-Probleme zu lösen. Zu diesem Anlass möchte ich ein passendes Foto aus dem Büro meiner Chefs hier einfügen und Euch frohes Gelingen wünschen. Habt eine gute Zeit!

Der Kabelsalat zu Betlehem. Quelle: Sash

Der Kabelsalat zu Betlehem. Quelle: Sash

Kauft das Buch!

Wie kam Sash eigentlich zum Taxifahren? Das beschreibt er in seinem ersten eBook "Papa, ich geh zum Zirkus!".

Immer dranbleiben!

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Noch ein Blog?

Kleiner Tipp: Sash hat noch einen zweiten Blog, auf dem es auch gelegentlich was zu lesen gibt.

Kalorien-Content

Da ich erst heute wieder ins Taxi steigen werde, mangelt es mir gerade an schönen Geschichtchen. Dafür hab ich die vergangene Nacht mit beinahe ebenso lustigem zu tun gehabt: mit Plätzchen. Und dank eines Geschenks, das jemand nettes von Euch von meiner Wunschliste gepflückt hat, kann ich hier wenigstens so halbwegs Taxi-Content bieten:

Nicht ganz vorschriftsmäßig, da nicht beleuchtbar, aber lecker. Quelle: Sash

Nicht ganz vorschriftsmäßig, da nicht beleuchtbar, aber lecker. Quelle: Sash

Die unsaubere Verzierung bitte ich zu entschuldigen, aber Ozie und ich haben halt nicht nur ein krümeliges Kekschen produziert. Da wären z.B. noch diese gewesen:

Eine Hundertschaft Haselnusskekse in freier Wildbahn. Quelle: Sash

Eine Hundertschaft Haselnusskekse in freier Wildbahn. Quelle: Sash

Oder diese hier:

Fügen Sie hier bitte eine Bildunterschrift ein, Sie Kreativitäts-Mogul! Quelle: Sash

Fügen Sie hier bitte eine Bildunterschrift ein, Sie Kreativitäts-Mogul! Quelle: Sash

Ganz hartnäckige Zeitgenossen würden auch diese noch hinzuzählen:

Walnüsse. Die mit den Enten. Quelle: Sash

Walnüsse. Die mit den Enten. Quelle: Sash

… und um ehrlich zu sein, ist das immer noch nicht alles. Mit den nicht fotografisch festgehaltenen Vanille-Kipferln sind wir auf 11 fast volle Bleche gekommen (Wobei man zugeben muss, dass unser Backofen ein paar Zentimeter schmaler ist als die Standard-Modelle). So, jetzt habt Ihr zwar nicht viel zu lesen, dafür aber Hunger. Ist doch auch was. 😉