Ein sehr spätes erstes Mal

Man sagt ja gerne vom Zeichnen, es sei die Kunst des Weglassens. Manche sagen das auch übers Schreiben. Vielleicht trifft es in gewisser Hinsicht auf die meisten Künste zu. Was dann ein Hinweis darauf wäre, dass Taxifahren keine Kunst ist. Viel weglassen kann man da nicht, damit es besser wird – manche Kollegen erproben das seit Jahrzehnten anhand des Beispiels der Manieren recht ausgiebig und die Ergebnisse sind verheerend.

Aber auch und gerade in Sachen Ortskunde trifft das zu. Als Taxifahrer tut man gut daran, einfach alles zu kennen. Wirklich alles. Ob es einem nachher bei der Wegfindung, der Fahrgastunterhaltung oder beim Zwischenstopp für eine Mahlzeit hilft: Mehr Wissen schadet von der Sache her nie*.

Bei der Arbeit wäre es einfach nur cool, sagen zu können:

„Aha, das Dorint-Hotel. Hoffentlich nicht Zimmer 206. Da stört die Wand vor dem Fenster und der Wasserhahn tropft. A prospos Tropfen: Wenn sie den Haupteingang nicht mittig durchqueren, treffen sie die besonders dicken Tropfen vom Fenstersims der 102 nicht, wenn Andrea wieder mit Blumengießen dran ist …“

Die Realität, *hüstel*, ist da manchmal ein bisschen anders. 😉

Die Adresse, die mir der Kunde ansagte, war gar kein Problem. Das Borchardt, ein immerhin im Ortskundekatalog stehendes Restaurant, definitiv eine der Locations, die nicht zu kennen knapp am Kapital-Fail als Taxifahrer vorbeischrammt. Zu den Top-100-Adressen in der Stadt kann man es wahrscheinlich zählen. Das war also nicht das Ding, obgleich sich der Kunde immerhin erfreut zeigte, dass ich keine Nachfrage hatte. Mir ist dann auf dem Weg dorthin aber aufgefallen, dass ich tatsächlich noch nie in den nunmehr 4 Jahren und 11 Monaten dahin gefahren war. Also direkt, um jemanden vor der Türe abzuladen. Und binnen fünf Jahren gegenseitiger Nichtbeachtung hat sich der Schlingel von Restaurant doch in meinem Kopf tatsächlich um fast einen ganzen Block verschoben …

[Beginn verstörend stammelnder Einschub]

Und das kann ich – etwas unbeholfen, aber in Ansätzen – sogar erklären: Ich habe geistig verschiedene Kartenausschnitte vor Augen, wenn Kunden eine Zieladresse nennen. Gröbere, genauere, manche mit dem Fokus auf eine bestimmte Ecke, manche aus der Perspektive der Straße, auf der ich meistens dort vorbeikomme. Denken in Karten – eine Geschichte für sich, ganz ehrlich! Da mein Gedächtnis aber eben alles andere als perfekt ist, passen die einzelnen Ausschnitte mitunter nicht zusammen. So habe ich die Friedrichstraße als wichtige Nord-Süd-Strecke fix im Kopf. Und das Borchardt liegt östlich davon in der französischen Straße. Viel öfter in der Ecke fahre ich allerdings über die Charlottenstraße – eine weiter östlich – an den Gendarmenmarkt heran, schon alleine weil die Friedrichstraße immer gesperrt ist. Friedrichstraße und Borchardt sind Ortskundewissen vom Lernen, meine Routen durch die Charlottenstraße Praxiserfahrungen. Und geistig hab ich das Borchardt bei mir jetzt einfach östlich der Charlottenstraße platziert, weil diese gerade „meine wichtige Nord-Süd-Strecke“** da ist. Dumm nur, dass das Restaurant zwischen Charlotten- und Friedrichstraße liegt …

[Ende verstörend stammelnder Einschub]

Wie dem auch sei: Am Ende hab ich dann doch nach DEM Borchardt Ausschau gehalten, weil ich es zu früh erwartet hatte. Dafür bin ich ja jetzt hingefahren: das schlägt sich alles nieder! 😀

Aber gut, ich hab mir meine Verunsicherung nur unwesentlich anmerken lassen. Und der Kunde war auch cool. Dass ich bei der Ecke unsicher war, keine Ahnung, ob er es bemerkt hat. Dass ich fürchtete, er wolle seine (mit gutem Trinkgeld) auf 16,00 € lautende Rechnung mit einem Fünfziger bezahlen, schien er jedoch zu erahnen. Er kramte ein wenig in den Jackentaschen und verkündete spannungsaufbauend:

„Aber jetzt … jetzt! Warten Sie, gleich. Passen Sie auf! HIER, bitteschön!“

Drei Fünfer und eine Euro-Münze. Hach, so hätte ich Borchardt-Kundschaft gar nicht eingeschätzt. 🙂

*Das Tückische ist, dass sich Wissen irgendwie nicht grenzenlos ansammeln lässt. Zumindest nicht ohne dazugehöriges Krankheitsbild mit nicht gerade weniger Stress …

**Falls Kollegen sich wundern: Die meisten Fahrten in die Ecke hatte ich gefühlt aus Richtung Osten zum Sofitel in der Charlottenstraße. Wahrscheinlich hat jeder von uns dort eine andere Hauptroute, also nicht wundern. 😉

7 Kommentare bis “Ein sehr spätes erstes Mal”

  1. Petra sagt:

    Danke…
    Das erste Lachen dieses Tages, trotz enervierenden Rüttlers (immerhin schon 3 Wochen) vor der Tür.

  2. SaltyCat sagt:

    ist mir schon in einem anderen Artikel aufgefallen, dachte aber damals, das sei ein Ausrutscher gewesen: à propos oder eingedeutscht apropos … aber nicht prospos … 😉

  3. Jens sagt:

    Och, Taxifahren hat doch auch ne Menge mit Weglassen zu tun: Lass alle unnötigen Umwege weg, und du hast die kürzeste Strecke. 🙂

  4. Carom sagt:

    Klar kann noch viel mehr weglassen – das Taxi zum Beispiel, und es durch eine ressourcenschonende Rikscha ersetzen. Die Leute, die so arbeiten, sind meistens sehr schlank (siehe z.B. Asien), das wäre doch eine tolle Möglichkeit, nebenbei die Pfunde purzeln zu lassen. (Es soll ja übergewichtige Taxifahrer geben, kA, ich kenne mich da nicht so aus.)

  5. Sash sagt:

    @Petra:
    Und danke Dir für den Kommentar! 🙂

    @SaltyCat:
    Danke. Ich werd’s künftig berücksichtigen. War mir tatsächlich nicht bewusst. Wer hat mir da Scheiße erzählt in meiner Kindheit?

    @Jens:
    Ja, so gesehen.

    @Carom:
    Klar. Und Blogs ohne Artikel sind auch super sinnvoll.

  6. Sam sagt:

    Klar sind Blogs ohn Artikel sinnvoll. Schont die Umwelt durch weniger Stromkosten oder so. 😀

  7. Sash sagt:

    @Sam:
    Absolut!
    Wichtig ist aber, es trotzdem Blog zu nennen!

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