So lobt man sich das!
Ich kam von der Petersburger Straße gen Süden geschossen, die Ampel am Frankfurter Tor im Blick. Sie war erstaunlicherweise schon grün und diesem Frieden ist einfach nicht zu trauen. Ein Kollege war noch vor mir und im Gegensatz zu mir schaffte er es. Ich hab zwar meinen kritischen Blick aufgesetzt, als er mit seiner vielleicht 100 PS stärkeren E-Klasse vor mir mal eben einen Endspurt hingelegt hat (schließlich fuhr ich selbst schon knapp 60), aber vielleicht war die Ampel wirklich noch nicht rot, als er sie passierte und unter Bremsenquietschen scharf rechts auf die Karl-Marx-Allee in Richtung Alex einbog.
Ich kenne das ja: manchmal will man’s einfach noch schaffen – und auch den größten Profi erwischt mal die Unvernunft. Ironischerweise tat mir das Warten an der Ampel ganz gut, denn auf der anderen Straßenseite postierte sich eine Winkerin. Dem Anschein nach irgendwo um die 60 Jahre alt, nicht gerade die Durchschnittskundschaft um halb drei. Während der Nachtschicht erliegt man ja manchmal dem Glauben, die einzigen Senioren in Berlin wären die Kollegen am Taxistand.
Man kann sich die äußerst energische Winkerin ungefähr so vorstellen wie „es Hilde“ aus der Serie „Familie Heinz Becker“. Nur ein wenig korpulenter. Klein, altersgerechte Kurzhaarfrisur, Brille mit sichtbarem Rand und einem verzweifelten Blick, weil die Welt mal wieder nicht so wollte wie sie. Anbei ein Mann. Ein unscheinbarer Rentner, im Gegensatz zu ihr in unauffälliges Grau gekleidet, eine ebenso fahle Schiebermütze auf dem ebenfalls bebrillten Kopf. Sicher sehr angenehme Kundschaft und zweifelsohne eine Abwechslung!
Ich setze den Blinker und halte direkt auf dem Fahrradweg. In dieser nasskalten Nacht sind kaum Radler unterwegs und so erlaube ich es den Autofahrern hinter mir, ohne Spurwechsel vorbeizufahren.
Und nun? Die Frau wirbelt freudig erregt im leichten Nieselregen umher, ist erleichtert, dass ich halte. Er hingegen würdigt mich nur schnell eines Blickes und stapft energisch und mit nach unten gezogenen Mundwinkeln von dannen. Seine Begleiterin, mutmaßlich seine Frau, redet auf ihn ein, gestikuliert wild – was ihn kein bisschen kümmert.
Das alles spielt sich für mich lautlos ab. Die Fenster sind geschlossen, allenfalls ein wenig Lärm der vorbeifahrenden Autos dringt zu mir ins Cockpit vor.
Die Frau ist außer sich vor Bestürzung, es ist ihr sichtlich peinlich, dass sie mich rangewunken hat, obwohl ihr Begleiter jetzt offenbar die Entscheidung getroffen hat, nicht mit mir zu fahren. Ob er einfach kein Taxi will, ob ihm mein Opel zu billig oder mein Bart zu sehr Rock ’n‘ Roll ist? Wer weiß es schon? Am Ende verständigen ich und ’s Hilde uns mittels hochgezogener Schultern darüber, das wir uns wohl nicht näher kennenlernen würden.
Meinem Glück tat’s keinen Abbruch, denn 20 Meter weiter winkte nun eine bedeutend jüngere Frau. Ohne mürrischen Begleiter. War nur eine Kurzstrecke, aber immerhin eine Fahrt.