Berlin 2010. Der Winter war dieses Jahr hart und entbehrungsreich. Zusätzlich zu den üblichen Winter-Depressiven sind in diesem Jahr auch noch gelegentlich Personen verstorben, weil sie die unerbittlich zwei Monate überdauernde Eisdecke über der Stadt nicht sicher zu überqueren wussten. Die Polizei wird bis in den Sommer hinein noch damit beschäftigt sein, die Überreste von Rentnern aus einsamen Wohnungen zu bergen, die verhungert sind, weil sie sich bei minus fünfzehn Grad nicht mehr vor die Türe getraut haben.
Die Nacht ist einsam, es ist niemand auf der Straße. Dabei nähert sich der Kalender unaufhaltsam dem Frühlingsanfang. Die Temperaturen sind längst wieder für ein paar Stunden täglich im Plus-Bereich, nur die Nacht ist noch kalt und mörderisch. In den einsamen Friedrichshainer Abendstunden wirkt die Welt noch wie schockgefrostet. Keine Fußgänger weit und breit, und von den wenigen Zügen, die den harten Winter trotz der Sparmaßnahmen der Bahn überlebt haben, taucht keiner im Osten der Hauptstadt auf.
Das Fernsehen lehrt uns, dass in so einer Situation gerne lose Dornenbüsche durch die Prärie kugeln, aber die wenigen Dornenbüsche in Berlin sind entweder tot oder vom Resteis noch zu schwer zum Kugeln. Ein paar Taxifahrer halten am leblos wirkenden Beton-Gerippe des Bahnhofes ihre Wacht wie die Aasgeier. Stets mit wachem Blick, die Zigarette lose im erschlafften Mundwinkel hängend, verfolgen sie die Reste des Zivilisationsmülls, der in solch schweren Stunden die Dornenbüsche ersetzt.
Im Wissen, jegliche Bewegung würde die Stille jäh zerreissen, schweigt die Welt sich aus und nur in irgendeinem fahl beleuchteten Büro sitzt ein einsamer Praktikant in der Duden-Redaktion und ändert als vermeintlich letzter Überlebender den Eintrag zu „Apokalypse“ in die Vergangenheitsform um.
Als sich gerade eine Wolke vor den blass anmutenden Mond schiebt, gleitet eine Schiebetür des Ostbahnhofs auf, als sei es das selbstverständlichste der Welt. An diesem Märzabend um 22 Uhr. Durch selbige schleift sich alsbald ein etwas kleinwüchsiger aber nicht schlecht gebauter Mensch südländischer Herkunft. Der lange schwarze Mantel umweht ihn mystisch, es bleibt ihm nichts als ihn mit den nackten Händen an sich zu pressen, um nicht den letzten Funken Körperwärme zu verlieren.
Die Taxifahrer schrecken aus ihrer Lethargie hoch. Manch einer murmelt sein Mantra: „Komm zu mir, komm zu mir…“ Weniger actionorientierte Exemplare setzen ihren sorgsam vor dem Spiegel geübten Bruce-Willis-Blick auf und konzentrieren sich ganz auf die Ablehnung einer zu kurzen Fahrt.
Ganz hinten in der Schlange realisiert Sash, dass er offensichtlich zu viele Thriller liest, weil er erschrocken ist, dass die unheimliche Gestalt sich ihm unverdrossen nähert. Sie blickt sich um, scheint Angst zu haben. Was? Was wird dieser traurige Haufen Mensch mir wohl antun wollen, fragt Sash sich.
Die Antwort ist grausam.
Das Dunkel der Nacht legt sich für einen Moment tiefer über das Auto von Sash, als der Fremde die gespenstisch anmutende und tote Fassade des Bahnhofs mit seinem Schatten schluckt. Die Augen kommen näher, sie sehen sich panisch um. Was wird das? Waffen? Was kann man noch tun? Die Nacht würde jeden Schrei verschlucken und der eisige Wind keine Spuren hinterlassen, wenn nun jemand sterben würde. Der Fremde öffnet langsam den Mund, blickt Sash an und sagt:
„Ey, ‚absch hier neue Sonnenbrille! Will’sch du kaufen?“
Nee, sorry!