Totalausfall

Ich hatte meine Kundin schon gesehen, da ahnte sie noch nicht einmal, dass es mich gibt. Sie tanzte auf der anderen Seite der Hauptstraße mitten auf der Fahrspur herum und war drauf und dran, dem nächtlichen Karlshorst einen Stau zu bescheren, weil sie die Autos hinter ihr nicht interessierten. Ganz offensichtlich bereits völlig hinüber. Dass die Fahrt mir kein Geld bringen würde, war dieses Mal von Anfang an eine mögliche Option, aber das war kein Grund, nicht zu wenden. Es gibt schon eine Menge gute Gründe, nachts nicht alleine besoffen durch Berlin zu torkeln – aber wenn man das dann auch noch auf die Fahrbahn verlegt, wird’s tendenziell suizidal.

Alle Autos vor mir schlängelten sich hupend an ihr vorbei, ich hab am Straßenrand angehalten, obwohl nicht ganz sicher war, ob sie eben wirklich gewunken hatte. Aber sie stieg zielsicher ein und nannte mir einen U-Bahnhof als Zieladresse.

„Aba nur bis zum Bahnhof!“

„Kein Problem.“

Sie versuchte mir dann noch etwas wirr zu erklären, weswegen man als „Bitch“ gilt, wenn man sich ein Taxi bis vor die Haustüre nimmt. Ich hab’s nicht verstanden und auch keinen Wert drauf gelegt. Ich sah durchaus einige Schwierigkeiten, als ich mir vorstellte, wie sie vom Bahnhof heimkommt, aber soweit waren wir noch nicht.

Denn zunächst einmal musste sie Dennis anbrüllen. Bzw. das Handy, auf dem Dennis anrief. Als sie ranging, erklärte sie lautstark, es sei alles ok, sie sei „im Taxi mit so ’nem komischen Typen“. Ich hab kein Problem damit, von Besoffenen als komischer Typ wahrgenommen zu werden, aber im Kopf hatte ich natürlich eher, dass Dennis ihr Freund ist und das jetzt ziemlich missverständlich rüberkam.

„Ja nee, ich bin voll. Ich geb dir mal den komischen Typen!“

Und so hielt ich dann das Telefon mit Dennis in der Hand.

„Hi, ich bin der Taxifahrer. Ich bring sie jetzt zum Bahnhof XY. Sie hat mir gesagt, ich soll sie dorthin bringen.“

„Ja, bring sie mal in die Lünschwünschstraße.“

„Die was?“

„Ach, irgendwas mit L da ums Eck, da wohnt sie.“

Ich hab auf die Karte geschielt. Eindeutig war das leider nicht. Einige Straßen mit L. Aber erst einmal sollte ich ja eh zum Bahnhof. 100 Meter vorher brüllte sie mir dann eine Adresse ins Ohr, die ich leider ähnlich gut verstand wie die Ansage von Dennis. Es sagte mir gar nix und das Navi konnte ich auch vergessen, denn ob man die Straße mit U oder O oder OU schreibt, war nicht aus ihr rauszukriegen.

„Egal. Zeig ich Dir! Nächste Straße wenden!“

Kürzen wir das ab: Wir sind dann fast zwei Kilometer zurück in die Richtung gefahren, aus der wir gekommen waren. Dort fand ich die Straße schnell auf der Karte und die Nummer 27 war dann kein Problem mehr. Aber da ging’s erst los. Sie kraxelte etwas unbeholfen aus dem Auto und meinte, Sandra zahle das.

0.o

Also wie gesagt: Dass ich kein Geld sehe – ok. Aber die Ansage hat selbst mich noch verwirrt. Wer zur Hölle war jetzt Sandra? Aber die Kundin torkelte schon Richtung Hauseingang. Ich hab erst einmal keine Eile gehabt, denn mir lag jetzt erst einmal daran, ihr Handy aus dem Fußraum zu fischen, das sie zwei Minuten zuvor unter großem Gejammer fallengelassen, inzwischen aber völlig vergessen hatte. Da es in einer üppigen Klapphülle steckte, hätte es mich zudem nicht gewundert, wenn dort noch Geldscheine im Gegenwert der Fahrt zu finden gewesen wären. Aber so einfach war es nicht.

Während sie nach ihrem Schlüssel nestelte, bin ich langsam hinterher und hab sie darauf hingewiesen, dass ich einerseits keine Sandra kenne und trotzdem das Geld für die Fahrt haben wolle und zudem hier ein Telefon hätte.

„Boah, etwa meines?“

Für eine Sekunde lang hatte ich darüber nachgedacht, es als so eine Art unfreiwilliges Pfand einzubehalten, aber wie sie nun dastand und es für einen irren Zaubertrick hielt, dass ich ihr Telefon hatte … ich will ehrlich sein: Die war so hinüber, ich konnte ihr nicht böse sein. Sie bestand aber darauf, dass Sandra doch schon was gezahlt hätte und dass Sandra „selbstverständlich!“ die sei, mit der sie eingestiegen war. Und während ich noch dabei war, ihr zu erklären, dass ich sie alleine aufgegabelt hatte, drückte sie mir ihren Schlüsselbund in die Hand:

„Kanns Du mal machen? Ich bin voll!“

Ich, deutlich zu wenig voll für das, was ich hier tat, konnte allerdings auch nur wenig ausrichten, weil die Schlüssel nicht passten.

„WAAS, aber das ist doch die 27?“

Nach der Vergewisserung, dass die Nummer stimmt, drückte sie einmal 50% der Klingeln des Mehrfamilienhauses und verkündete dann, dass sie jetzt ganz dringend kotzen müsste.

Die Aktion mit den Klingeln hat mich weniger geärgert als sonst, denn meine Kundin war deutlich jünger als ich, ich hatte also durchaus auch noch ein wenig die Hoffnung (bzw. Befürchtung), dass ich im Verlauf des Bezahlvorgangs vielleicht ihre Eltern oder diverse Mitbewohner kennenlernen würde. Ich hab die verstörten Rufe aus der Gegensprechanlage dennoch verhallen lassen, weil meine Kundin beim beeindruckenden Versuch, mehr als zwei Liter Cocktails direkt neben der Klingeltafel loszuwerden, umgefallen war. Nicht schlimm, sie hatte sich davor schon hingehockt, aber ihre nun doch mehr als bodennahe Haltung ließ mich instinktiv Hilfe anbieten:

„Soll ich hochhelfen?“

„NEIN!“

Deswegen fragt man vorher.

„Äh … vielleicht doch?“

Deswegen fragt man überhaupt.

Kaum, dass ich sie mit einem beherzten Griff unter die Achseln wieder in der Senkrechten hatte, öffnete eine Nachbarin die Tür und fragte, was los sei. Ich hab versucht, das ganze mit zwei Sätzen klarzustellen, selbstverständlich nebst Entschuldigung.

„Sie haben mich wachgeklingelt!“

Die Verteidigungsreflexe meiner Kundin saßen noch:

„Ich nicht. Wenn dann er!“

Also hab ich noch zwei, drei Sätze dranhängen müssen. Aber die Nachbarin war nett und hat versucht, die Situation zu überblicken. Die Kundin behauptete, Geld in der Wohnung zu haben, ich hab versucht, glaubhaft zu versichern, dass das wirklich alles ist, weswegen ich hier bin und ich war super erfreut, als die Nachbarin angeboten hat, mitzukommen. Leider machte sie dann doch vor der Wohnungstür kehrt, ich hätte ja nix gegen Zeugen gehabt. Allerdings gab’s da wirklich nix mehr zu klären, denn kaum dass die Wohnungstür hinter uns ins Schloß fiel und ich noch einmal den Fahrpreis nannte und dass ich deswegen hier sei, erklärte die Kundin folgendes:

„Ja nee, wo soll ich denn hier Geld haben? Also da müssteste bis morgen warten.“

Ich hab – obgleich wie gesagt nicht überrascht – ernüchtert angemerkt, dass ich den schweren Verdacht hätte, dass ihrerseits morgen vermutlich keine Erinnerung mehr an diese Posse übrig wäre.

„Ach was, ach was! Ich will doch nicht unfair sein. Ich hab deine Daten!“

„Äh … nein!?“

„Na dann schreib mal auf! Morgen!“

„Haben Sie einen Zettel?“

Ganz im Ernst: Die eine Minute jetzt war natürlich verschenkt, aber was weiß ich schon, wozu ein solcher Zettel beim morgigen Erwachen führen könnte. Vielleicht hilft’s ja wenigstens bei der Erkenntnis, dass sie im Vollsuff jemanden in ihre Wohnung gelassen hat, was mir ehrlich gesagt an ihrer Stelle rückblickend ziemlich spooky vorkommen würde.

Und wäre ich gegangen, hätte ich mich auch um die letzte Pointe des Abends gebracht, denn obwohl ich an dieser Stelle mal klarmachen muss, dass wir uns in einer kleinen aber sehr feinen, ordentlichen und sauberen Wohnung befunden haben, kam sie nach meiner Frage nach einem Zettel ungelogen mit einer Küchenrolle zurück und hat auf meine Skepsis hin gesagt:

„Ja, sorry. Ich hab nicht so oft Besuch.“

Hier im Bezirk wird heute also eine junge Dame mit einem Mörderkater aufwachen und meine Handynummer auf ihrer Küchenrolle finden. Natürlich würde ich mich über den Anruf, bzw. die 22,70€ sehr freuen, aber in Anbetracht der Tatsache, dass das am Ende auch einfach nur dermaßen lustig und absurd für mich war: Ich werde trotz Wissens über Name und Adresse nie tun, was sie mir abschließend angeboten hat:

„Weißt ja, wo ich wohne. Kannst jederzeit klingeln. Jederzeit, klar!“

Es ist mir völlig egal, wie diese Geschichte bezüglich meiner Kohle endet. Ich hoffe bloß, dass sie in dem Zustand nie an die falschen Leute gerät.

7 Kommentare bis “Totalausfall”

  1. Hans Olo sagt:

    Wundert mich, dass sie nicht in Naturalien bezahlen wollte, you know what I mean. Oft fallen ja in dem Zustand alle Hemmungen.

  2. Wahlberliner sagt:

    Au weia. Und die Dame kann verdammt froh sein, dass sie an Dich als Taxifahrer geraten ist, denn wer weiß, wie viele andere Taxifahrer ihre Hilflosigkeit schamlos ausgenutzt hätten…

  3. Sash sagt:

    @Hans Olo:
    Das sind aber nur die, die ohnehin schon solche Pläne hatten. Sonst reicht Alkohol eher nicht aus, um 20€ für einen guten Grund zu halten.

    @Wahlberliner:
    Ich hoffe immer noch, dass nur ein sehr sehr kleiner Teil der Menschen Arschlöcher sind, aber ja, ich teile deine Befürchtung auch.

  4. […] etwas voreilig. Das kann passieren, wenn man mal wirklich tagesaktuelle Dinge verbloggt. Der „Totalausfall“ war wohl gar keiner. Ich bin genauso überrascht wie Ihr, aber schon während ich noch […]

  5. […] hab vorgestern schon wegen der persönlichen Aufarbeitung erst einmal die Kundin mit dem Totalausfall verbloggt. War halt eine Fahrt, die mich nachhaltig beschäftigt hat. Um aber zu verstehen, warum […]

  6. Daarin sagt:

    Also ich würde ja diesen Text nehmen, dazu schreiben „Das warst du!“ und ihn in einen Umschlag mit der Adresse der Dame schieben. So als kleine Erinnerung.

  7. Sash sagt:

    @Daarin:
    Ist ja inzwischen nicht mehr nötig. 🙂

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