Vom Fahrtziel her hat er mich echt positiv überrascht. Ich war gerade in Kreuzberg ein wenig ziellos durch die Gegend gefahren, da stand er plötzlich vor mir und wollte weit in den Norden. Sehr weit. Frohnau ist so eine Ecke, in der ich bislang vielleicht viermal war, da ist das Navi schon bei der Nennung des Stadtteils so gut wie programmiert.
Aber er wollte mir trotz erhöhtem Alkoholpegel den Weg zeigen. Also gut. Die Idee mit dem Ansagen der Strecke war aber umgehend wieder begraben, da er sich sofort auskotzen musste. Also nicht wörtlich. Das hatte ich in der Nacht erst noch vor mir. Aber dazu morgen mehr.
Nein! Seine Freundin! Also Verlobte, wenn man es genau nimmt …
Sein Monolog dauerte bis auf wenige Unterbrechungen eine knappe halbe Stunde, die gesamte Länge der Fahrt eben. Im Grunde ging es um einen recht einfachen Sachverhalt, nämlich dass seine Freundin bei einer Familienfeier früher gehen wollte als er. Ich denke, eine Situation wie diese hatte jede längere Beziehung schon mal „auszuhalten“ – im Grunde ist es ja ein recht leicht behebbarer Konflikt. Er hatte ihr den wohl den Umständen entsprechend nicht sinnfreien Vorschlag gemacht, sie könne ruhig schon heimfahren, er würde sich zu späterer Stunde ein Taxi nehmen. Et voilá, da saß er nun?
Weit gefehlt. Sie hätte ihm zunächst eine Szene epischen Ausmaßes gemacht, wusste er zu berichten, dann erst sei sie abgedampft. Soweit, so unschön – nun ging es aber wohl erst los. Eine Stunde später stand sie nämlich wieder vor der Türe und hat fortan offenbar beleidigt auf dem Sofa gesessen, bis der nächste Ausbruch folgte. Erst da sei er dann recht wortkarg verschwunden, während sie jetzt wohl immer noch dort sei.
Faszinierend. Leuten die Lebensgeschichte abzunehmen hab ich ja ganz gut raus, aber er steigerte sich da so langsam immer mehr rein. Es ginge nicht um dieses eine Mal, im Grunde würde ihn das bereits seit 12 Jahren ankotzen und er wolle jetzt Schluss machen. Glücklicherweise teilte er meine Meinung, vielleicht vorher eine Nacht drüber zu schlafen. Sein Pragmatismus war allerdings grandios:
„Gott sei Dank weiß ich, wie man reist. Handy und Pass hab ich dabei, den Rest kann sie meinetwegen behalten.“
„Ach, Sie fahren jetzt gar nicht nach Hause?“
„Nee, zu meinen Eltern. Weiß noch gar nicht, was ich denen sagen soll? ‚Hallo Mama, hallo Papa, da bin ich wieder!‘?“
„Oh, na dann viel Spaß …“
Einen Ausblick darauf, dass diese Tour noch nicht die Katastrophe des Abends gewesen wäre, bekam ich einen Kilometer vor dem Ziel. Dort kauerte vor einer Kneipe eine junge Frau auf der Straße, notdürftig betüddelt von einem Kerl. Definitiv eine potenzielle Kotz-Tour. Niemals würde ich die mitnehmen! Aber wie zur Hölle komme ich aus der Ecke wieder weg, ohne da nochmal vorbeizufahren?
Ich hatte noch ein wenig Zeit zum Überlegen. Mein Fahrgast ließ sich morgens um 3 Uhr bei seinen Eltern absetzen und tat sich sichtlich schwer damit, zu klingeln. Auch wenn nach der Fahrt viele Fragen offen waren: In diesem Punkt konnte ich ihn nur zu gut verstehen. 😉
Glücklicherweise hat er mir zur sehr lukrativen Tour auch noch ein Trinkgeld vermacht, dass sich sehen lassen konnte. Vorerst war alles in Ordnung und meine Ohren waren wieder am Abschwellen …
Immer diese Cliffhanger, man man man.
Hast du noch gewartet ob er klingelt.. und viel wichtiger: gesehen, wie die Eltern reagiert haben? 🙂
Ich tippe mal so ins Blaue: Natürlich geht es morgen um die „potenzielle Kotz-Tour“. Bei Deiner Gutmütigkeit und Deiner Fähigkeit das Unheil an sich zu reissen… was soll da anderes kommen?
@Ana:
Ich hab schon den Text morgen gesplittet, weil er zu lang geworden ist (keine Sorge, kommen beide fast zeitgleich), da wollte ich diese Tour nicht auch noch mit reinnehmen. Und wirklich was miteinander zu tun haben sie auch nicht. Aber so ein kleiner Hinweis muss doch erlaubt sein 😉
Ich hab nicht mehr gewartet, musste allerdings wenden und er ist sehr bedächtig Stufe für Stufe zum Eingang hochgeschlichen. Was dann passiert ist, weiß ich allerdings nicht.
@Ursli:
Ich hatte es ja auch gestern schon angekündigt. DIE große Überraschung ist es nicht. Aber keine Vollzerstörten-Tour ist wie die andere, ich denke, das Lesen lohnt sich trotzdem 😉
Bei dem Statement an Ursli : ‚Aber keine Vollzerstörten-Tour ist wie die andere‘ , hast Du bestimmt an den ersten Satz von Tolstois ‚Anna Karenina‘ gedacht: ‚Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre art‘. Stimmts?
@elder taxidriver:
Diese Vermutung ehrt mich, aber Du überschätzt meine Belesenheit. 🙂
[…] Wie gestern schon erwähnt: Ich konnte mir das Ende der Schicht schon ausmalen. Mir fiel im hohen Norden keine vernünftige Umfahrung der Kneipe ein, vor dem eine bereits zusammengeklappte junge Frau nebst Begleitung saß. Und ich kann so schlecht nein sagen. Also fuhr ich vorbei und eine inzwischen auf mehrere Leute angewachsene Unterstützercrew winkte mich heran. Ich bin gleich ausgestiegen und hab ohne mir das Elend wirklich anzusehen gemeint: […]