In dem Moment, in dem ich den Schlüssel drehe, fällt sie von mir ab, die Fahrt. Ein älteres Ehepaar, ständig nörgelnd. Nicht müde werdend zu erzählen, wie schlimm es sei, ihre Rentenkürzung betreffe sie massiv, sei unfair, wo sie doch für diese rote Regierung jahrzehntelang geschuftet hätten. Und jetzt dieser Rückflug. Eine halbe Stunde Verspätung wegen so eines lächerlichen Gewitters. Damals, da konnten die Piloten noch fliegen. Und bei den letzten 3 Urlaubsreisen dieses Jahr hat sich auch noch keiner so angestellt. Und ich sollte auch mal besser was richtiges lernen. Ist doch kein Leben, die ganze Nacht besoffene Türken fahren. Sind ja nicht alle so nett wie sie. 19,80 €, machste Zwanzichfuffzich für’n Kaffee!
Die beiden vorderen Fenster gleiten hinunter, das auf der Fahrerseite hakt ein wenig und gibt klappernde Geräusche von sich. Die Nacht kriecht mit wohlmeinenden 20 Grad ins Fahrzeuginnere, die letzten Parfumwolken ziehen in die Biesdorfer Dunkelheit. Der Wind trägt den frischen Duft von Kiefernadeln in meine Lungen, Auszeit von Zigarettenrauch und Smog. Die Wipfel der Nadelbäume schwanken hin und her, wirken auf eine komische Art bedrohlich und sind doch so viel friedlicher als manch menschliche Unzulänglichkeit in den Häusern hinter ihnen.
Der Kies knirscht unter den Reifen, als ich das Fahrzeug mit zweimaligem Zurücksetzen auf dem engen Weg wende. Es ist relativ ruhig, die Geräusche der Stadt werden mich erst ein paar Kilometer weiter wieder umfangen. Von fern dröhnt monoton der inzwischen überschaubare Verkehr der B1. Ein paar Kieselsteinchen springen über ihre Artgenossen, als der Motor nach dem Einkuppeln die Kraft an die Räder übergibt und meine hellelfenbeinfarbene Festung sich vom Untergrund abdrückt. Anderthalb Tonnen Metall fliegen durch die Einfamilienhaussiedlung, mit zunehmender Geschwindigkeit werden die Geräusche gleichmäßiger, gefühlt leiser.
Zwischen Daumen, Mittel- und Zeigefinger spüre ich die Rillen des gummiummantelten Volume-Reglers, und während das Licht der ersten Straßenlaternen nach und nach das Cockpit meines Taxis flutet, genieße ich die bei so unbelebter Straße freie Hand und sorge dafür, dass die ersten Gitarrenklänge von …and justice for all feinfühlig eingefadet werden.
Da das Autoradio qualitativ nicht gerade State-of-the-Art ist und zudem bei meiner zunehmend beschleunigten Fahrt Richtung Innenstadt genügend Nebengeräusche einen angemessen andächtigen Musikgenuß verbieten, stört mich an dieser Stelle auch nicht die oftmals bemängelte Drumlastigkeit des Albums. Genau in diesem Moment, merke ich, ist die Nacht am tiefsten, der Tag also am Nächsten. Eine gelblich fahl leuchtende Laterne nach der anderen wirft ihren Schein auf mich, um anschließend im Rückspiegel zu verschwinden. Lautlos.
Mit dem bisherigen Umsatz zufrieden erlaube ich mir, die Aufmerksamkeit auf die Straße und die Musik, nicht auf den Gehsteig zu konzentrieren. Am linken Ellenbogen fröstelt mich etwas ob des Fahrtwindes, keinen Gedanken daran verschwendend, dass es wahrscheinlich ziemlich prollig aussehen muss, wie ich den Arm aus dem Fenster hängen lasse. Völlig entspannt lasse ich zu, dass ich den Kopf zur Musik bewege und nur eine einzige Anspannung in diesem Moment hält mich gefangen: Ich versuche, das Vorbeirauschen der Straßenlaternen nicht mit den Drums von Lars Ulrich zu synchronisieren. Relaxt sein ist ok, Führerscheinverlust eher nicht.
Als ich kurz hinter der Rhinstraße herangewunken werde, war ich erst runde 2 Minuten unterwegs. Es gibt sie, diese Momente, die so angenehm sind, dass ich mir erlaube, Musik als Zeitmesser zu verwenden. Und da der Gesang bei …and justice for all erst bei 2:10 einsetzt…
Ich unterbreche die getragene Stimmung professionell. Binnen Sekunden summt der Elektromotor die Scheibe des Beifahrerfensters nach oben, die Musik ist unhörbar leise, und der einzige noch vernehmbare Beat ist das leise Klacken des Blinkers, als ich das Auto vorsichtig nach Rechts steuere.
Ich beobachte ein ums andere Mal Kollegen beim Heranfahren an einen Kunden und ich habe eine gewisse Hoffnung, dass ich meine Seriosität mit dem Fahrstil schon bei dieser ersten Kontaktaufnahme unterstreichen kann. Kein Reifenquietschen, kein hektisches und apruptes Ausscheren aus dem fließenden Verkehr, ein dezentes Halten mit der Fahrertür auf Höhe des Kunden. Aller verkehrsbedingter Stress, so er gegeben ist, bleibt beim ersten Kundenkontakt im Auto. Und so treibt mich ein nur leichter Lenkeinschlag, vergleichbar mit einem Spurwechsel auf der Autobahn, sanft an meine potenzielle Kundin heran.
Eine junge Frau, scheinbar auch gutaussehend. Es ist dunkel an der Stelle, an der sie steht. Ich belustige mich mit ruhigem Gesichtsausdruck über die immer wieder auftretende Unsicherheit bei nächtlichen Fahrgästen, ob sie vorne oder hinten einsteigen sollen. Hinten. Wie fast alle. Ich drehe mich zur Begrüßung um, schenke ihr ein charmantes Lächeln. Sie ist jünger als ich und ich finde sie ziemlich hübsch. Das passiert mir allerdings öfter. Hat wahrscheinlich hormonelle Gründe.
Ihre Kleidung ist sauber, schlägt keine Falten, passt sich ihrem Körper perfekt an, aber ihre zerzausten Haare wirken unordentlich, unpassend. Als sie mir ihre Adresse in Kreuzberg nennt, hebt sie ihren Kopf, und ihrem Gesicht ist anzusehen, dass sie geweint hat. Tränen und insbesondere Versuche, die Tränen zu verwischen, haben Spuren hinterlassen im Make-up. Es war sowieso zu viel, wenn man mich fragen würde. Aber ich bin Taxifahrer, mich fragt man nicht.
Die Tachonadel schnellt, nur unterbrochen durch 3 schnelle Schaltpausen auf knapp 60 hoch. Auf der Lichtenberger Brücke erwischt uns die Helligkeit der nächtlichen Stadt recht plötzlich. Im Rückspiegel sehe ich ihr Gesicht nur schemenhaft, sehe wie ihre Augen zwischen der Scheibe und ihren dunklen Haaren unablässig Gegenstände am Fahrbahnrand fokussieren, ihnen folgen, sie verlieren und die nächsten anvisieren. Der Inbegriff der Traurigkeit. Auf makabere Weise dennoch schön.
„War ein langer Tag, oder?“
Manchmal frage ich mich, wieso ich in solchen Momenten das Gespräch suche. Egal, wer mich im Auto begleitet, ich werde aller Voraussicht nach immer der flüchtigste Kontakt dieses Tages bleiben. Die intimen Momente im Taxi sind rar gesät, und kaum etwas ist unbefriedigender als Smalltalk, wenn klar ist, dass er nicht ausreicht.
„Ja.“
Es braucht nur ein geringes Maß an Vorsicht, um zu wissen, dass man in solchen Situationen keine Fragen ohne Ausweichmöglichkeit stellt. Die Fahrten, bei denen ich Menschen nach ihrem Ärger befragt habe, sind zahllos. Doch feuchte Augen sind meist zu müde, sich zu verteidigen.
Die Zeit verfliegt nur so, und während ich mich beizeiten in ihrem Blick nach draußen verliere, hätte ich beinahe den Blitzer vergessen, der die Frankfurter Allee davor bewahrt, nachts als Autobahn wahrgenommen zu werden. An der Möllendorffstr. torkeln die ersten Betrunkenen über den Fußgängerüberweg und ich nehme den Typen zur Kenntnis, der beim Pinkeln an ein Verkehrsschild angelehnt, langsam vom Schlaf übermannt wird.
„Wissen sie, mein Freund hat gerade Schluss gemacht…“
schluchzt es leise aus dem Fond.
„…Entschuldigung.“
„Sie brauchen sich für gar nichts entschuldigen. Taschentuch?“
Die rhytmisch blinkenden Lichter, die Flugzeuge davon abhalten sollen, den Fernsehturm zu rammen, spiegeln sich in allerlei Fenstern, die wir nach und nach passieren. Bis zum U-Bahnhof Samariterstraße sind schon zwei Taschentücher verbraucht, und wenngleich ihr Trost noch einige Zeit entfernt liegt, weiss ich zumindest jetzt schon, dass ich sie nicht nachher unter dem Sitz finden werde. Tränen lügen nicht ist nicht nur ein beschissenes Lied, sondern zumindest in der Hinsicht richtig, als ich noch nie von weinenden Menschen zu betrügen oder verärgern versucht wurde.
„Wissen sie, da zieht der Arsch mit dieser Schlampe ab und schreibt mir ’ne SMS, dass es vorbei ist. Warum sind Männer immer so blöd?“
„Ach, wenn ich die Frage beantworten könnte, dann würde ich nicht dazugehören. Und befangen bin ich so oder so. Ich schätze, ich werde ihnen keine Hilfe sein können.“
Lächeln. Lächeln! Na also!
„Brauchen sie noch ein Taschentuch?“
„Ja, danke. Kannst auch du zu mir sagen!“
Am Frankfurter Tor quetsche ich mich noch als letzter bei der grünen Ampel durch und biege links in die Warschauer Straße ab. Am rechten Straßenrand im Halbdunkel rennt ein hilfloser Typ seiner Angebeteten hinterher, die hochnäsig von dannen zieht. Ich blicke kurz in den Innenspiegel und bemerke, dass die Straßenszene ihre Wirkung nicht verfehlt. Als wir die wartenden Betrunkenen vor der Dönerbude, den müden Obdachlosen an der Nachtapotheke, die Skater auf dem Grünstreifen und die von der Polizei angehaltenen Prolls mit ihrem getunten Auto hinter uns gelassen haben und auf den grünen Startschuss zur Überquerung der Oberbaumbrücke warten, ist die Laune auf der Rückbank bereits wesentlich besser. Im Wesentlichen dazu beigetragen habe ich nur durch gelegentliche Einstreuung der Wortfetzen „Ja“, „Das stimmt.“, „Überleg dir das nochmal!“ und „Morgen ist auch noch ein Tag. Soll sogar recht sonnig werden.“
Der Verkehr ist dichter geworden, die Taxen mit den Fahrgästen fürs Watergate stauen sich bereits bis auf die Brücke.
„Wirf einen Blick hier runter. So scheiße ist die Nacht nicht. Behalt lieber den Ausblick in Erinnerung. Versuchen! Vielleicht klappt’s ja!“
Und noch ein Lächeln…
Als wir knappe 2 Minuten später bei ihr vor der Haustüre stehen, sind die Tränen zumindest vorerst wieder trocken. Wir haben noch ein paar Sätze übers Taxifahren verloren, und zwangsläufig kommt sie, die Frage:
„Sag mal, ist es nicht mies, Samstag Nachts arbeiten zu müssen?“
Generalprobe, ob es was gebracht hat…
„Wer sagt denn, dass ich muss? Und wer von uns beiden hatte heute die miesere Nacht? Ich bin zufrieden, keine Sorge!“
Vorletztes Lächeln. Bingo!
„Also dann…“
„Ja, also dann… ähm… danke!“
„Nichts zu danken. Ich bin nur der Fahrer, schon vergessen?“
Und das Letzte… dann verschwindet sie unsteten Schrittes im Durchgang zu ihrem Haus. Ich sehe ihr nach, mache mir einen Moment lang Gedanken darüber, ob sie jetzt gleich weint, wenn sie bemerkt, dass sie den Schlüsselanhänger von ihm geschenkt bekommen hat, oder erst wenn sie in einer halben Stunde im Bett liegt.
Ich sehe mich um, die Straße ist menschenleer. Ich öffne das Beifahrerfenster mit einem Knopfdruck, und drehe den Schlüssel. Der Volume-Regler bewegt sich wie von selbst wieder in die richtige Position. Dieses Mal eine Prise HipHop. Warum nicht? Vielleicht ist das was ich heut Nacht gesehen hab, das was wirklich ist. Beweis mir, dass es nicht so ist! Ich hab die Grenze zwischen Traum und Realität diesmal nicht vermisst…
An der Ecke sitzt ein Typ in meinem Alter. Er sieht im Dunkel nur die hellelfenbeinfarbene Kiste, sieht das Dachschild aufleuchten als das Taxameter auf frei umschaltet, überlegt zu winken, lässt es aber sein. Er ist viel zu betrunken. Er denkt sich, dass er den Scheißjob ja auch nicht machen würde. Jetzt, wo es gerade so schön ist. All das sehe ich ihm an. Aber die Nacht ist zu dunkel, als dass er mein Lächeln sehen könnte.
Und ich beschließe ausnahmsweise, die letzte Fahrt noch nicht abzuschütteln…