„Entschuldigung, wie weit isses denn etwa bis zum Kottbusser Damm?“
„So ungefähr drei Kilometer, Pi mal Daumen acht Euro mit’m Taxi.“
„Echt? O Prima. Ich würd‘ dann noch aufrauchen und wenn bis dahin keiner kommt, fahr ich mit Dir. In Ordnung?“
„Sicher doch!“
Er hat dann noch aufgeraucht, zwei Minuten später saß er schon auf dem Beifahrersitz. Ein netter junger Mann, gepflegter Bart, Kurzhaarfrisur, lässige Freizeitklamotten und eine mir nicht näher bekannte Form von Mütze auf dem Kopf. Die Strecke war nicht lang, man sollte meinen, arg weit über Smalltalk komme man dabei nicht raus. Besuch in Berlin, Freunde, Berlin ist echt schön, mal was ganz anderes und hey: Du kommst doch auch aus Süddeutschland, oder?
„Erwischt.“
„Cool, woher genau?“
„Stuttgart, direkt.“
„A Stuargarder! Ich komm aus Freiburg, war aber oft in Stuttgart zum Feiern!“
Und noch einmal vier, fünf Sätze über Berlin, Stuttgart, die Unterschiede – dann wurde er schnell nachdenklicher:
„Berlin is‘ schon geil. Alles größer, bessere Clubs … ich war gern in Stuttgart, aber hier kann ich wenigstens mal wirklich weggehen, ohne mir’n Kopf zu machen. Ich weiß nicht, wie Dir das ging, aber bei mir – schau mich an! – war’s immer erstmal nervig!“
Ich hab mich in den letzten 15 Jahren verbogen und verhaspelt, um diese Scheiße irgendwie verständlich auf den Punkt zu bringen und hab’s dabei nur selten über genervte Reaktionen meiner Gegenüber gebracht. Jetzt saß er hier neben mir, im Taxi in Berlin, und regte sich als Betroffener über den Alltagsrassismus auf. Aguso – mit diesem Namen stellte er sich zum Ende der Fahrt hin vor – war, auch Nachts unschwer zu erkennen, von schwarzer Hautfarbe. Und:
„Jedes Mal, wenn ich in Stuttgart weggegangen bin, obwohl nee – nicht übertreiben! – aber drei von vier Mal, ha’m se uns angehalten und kontrolliert, gefilzt. Das ganze Programm. Und hier: nie!“
Ich hab ihm zu verstehen gegeben, dass ich das durchaus auch kenne. Wobei ich damals natürlich den Vorteil hatte, mir meine langen Haare zusammenbinden zu können und die Antifa-Buttons von der Jacke nehmen. Dann ein Hemd angezogen und schon war ich als perfekter Deutscher niemals in der Verlegenheit, meine Taschen entleeren und zusehen zu müssen, wie sich bewaffnete Uniformierte darüber lustig machten, was ich an Lesestoff dabei hatte oder welche Kondommarke. Aguso sprach, im Übrigen ruhig und gelassen, nicht aggressiv, allenfalls frustriert, weiter:
„Ich war ja auch mal in Köln. Da is‘ schon eher wie hier. Hab da auch Leute kennengelernt, aus Eritrea. Als die das gehört ha’m, meinten die, wir wär’n ja paranoid, so’n Quatsch, alles Bullshit, sowas gibt’s doch gar nich‘ hier! Und dann waren die zu Besuch und ich – des is‘ jetzt echt scheiße, das so zu sagen – ich fand das richtig lustig, dass uns die Bullen gleich am ersten Abend gefickt haben. So richtig. Total unverschämt. Die ha’m uns so hart rangenommen, die Kölner Mädels ha’m angefangen zu flennen …“
Es ist kein Geheimnis, dass ich nicht deswegen nach Berlin bin. Ich bin nicht in Berlin, weil ich Stuttgart hasse. Im Gegenteil, ich finde es heute sehr sehr schön, gewissermaßen zwei Heimatstädte zu haben und ich hätte kaum meine Hochzeit in Stuttgart gefeiert, wenn es mich da uneingeschränkt wegziehen würde. Auf der anderen Seite liegt mir das ja durchaus auch reale schwäbisch-spießige Weltbild so fern, dass ich mich wohl selbst mit Wolfgang Thierse im Taxi recht gut unterhalten könnte (andere Meinungsverschiedenheiten natürlich nicht ausgeschlossen).
Von außen, als Unbeteiligter, ist man irgendwie immer gezwungen, konstruiert und aufgesetzt zu wirken. So lange man nicht selbst betroffen ist, wirkt man immer irgendwie unglaubwürdig und muss sich nicht minder konstruierte Gegenargumente anhören. Sicher, Aguso ist nicht der erste, den ich kennenlerne und ich habe selbst schon ein von der Polizei durchsuchtes Zimmer auf meiner Liste zu verzeichnen. Aber ein ums andere Mal macht das ein wenig fassungslos. Die erste Verkehrskontrolle nach 10 Jahren Führerschein ist lustig, klar. Und bei der ersten „unabhängigen Personenkontrolle“ wundert man sich allenfalls. Und ja, das für sich ist kein großes Thema.
Aber irgendwann steht man da und pfrimelt aus seinem Geldbeutel die Adressen von Kumpels, weil es die Cops nichts angeht, mit wem man zu tun hat. Da steht man in der U-Bahn, greift sich in die Tasche und denkt sich:
„Scheiße, ich hab mein Taschenmesser noch einstecken. Hoffentlich machen die da keinen Stress wegen!“
Die berühmte „Schere im Kopf“ wirkt sich plötzlich nicht „nur“ auf Kunst und Kultur, sondern aufs Alltagsleben aus. Und das wegen der Hautfarbe? Man sollte meinen, wir Menschen wären langsam mal darüber hinweg.
Aguso z.B. war wahrscheinlich das Musterbeispiel für Integration. Akzentfreies Deutsch, besser noch: leicht schwäbischer Dialekt! Lässig, aber ordentlich, Student, Maschinenbau (Fachkräftemangel, anyone?), ein sympathischer Mensch mit einem Lächeln bei jedem noch so traurigen Satz, am Stuttgarter Hauptbahnhof, etwa sechs Stunden vor unserem Treffen das letzte Mal kontrolliert,
„nur so normal, Ausweis zeigen halt.“
Unser Innenminister fordert derzeit mal wieder neue Anti-Terror-Gesetze, z.B. wegen gewaltbereiter Salafisten. Aguso wird sich künftig wahrscheinlich auch noch Gedanken darüber machen, ob sein Bart weit genug gestutzt ist. Ich hielt nach nur viel zu wenigen Minuten mit 7,80 € auf der Uhr, die wie selbstverständlich mit einem Zehner ohne Rückgeld beglichen werden. Noch ganz im Thema, verabschiedeten wir uns mit gequältem Lächeln voneinander.
„Wie heißt Du nochmal?“
„Sascha.“
„Sascha. Ich bin Aguso. Cool! Meine erste Bekanntschaft dieses Mal in Berlin. Und: a Schwoab!“
Und dann ist er feiern gegangen, vermutlich ungestört. Ich nehme an, seine Taschen hat er vorher dennoch überprüft. Sicher ist sicher.