Aufgefallen ist sie mir schon ein paar Ausfallschritte vorher. Ich stand vor der Kulturbrauerei und wartete an zweiter Position auf Kundschaft,
„Hi. Sag mal, kanns‘ du, du kanns‘, du kanns‘ sicher was sagen.“
„Ähm, ja: Guten Abend erstmal!“
Betrunken. Kein Problem. Das Schwanken alleine war schon deutlich, aber aus ihren Taschen ragten gleich noch zwei Bierflaschen Wegzehrung, die offensichtlich nicht mehr nötig waren, um das allgemeine Absturzlevel zu erreichen. Sie floss geschmeidig um meinen Wagen, lehnte sich an die Fahrertüre und konzentrierte sich darauf, mich anzusehen.
„Nein nein nein! Ich wollte fragen: Wo ist denn hier noch was los?“
„Naja, hier in der Kulturbrauerei ist offenbar noch der ein oder andere Laden und Club offen.“
„Ja aber weissdu, versteh mich nich falsch. Ich will ja nur wissen, wo man jemanden ansprechen kann.“
„Also ich würde es da drinnen versuchen.“
Also es ist ja so – versteh mich nich falsch! – ich wohne ja eigentlich gleich da drüben. Aber ich will heute Nacht nicht alleine sein…“
„Das verstehe ich, keine Sorge!“
Ich hab unauffällig meinen Blick schweifen lassen. Ihr Alter war schätzungsweise Ende 30, die Klamotten ließen sie jünger wirken. Über der Hose trug sie einen einfachen Rock, unter ihrem offen getragenen Kapu hing das lange Shirt heraus. Ganz dem Wunsch entsprechend, die Nacht nicht alleine zu verbringen, hatte das 3 Nummern zu große Shirt einen beachtlichen Ausschnitt, der immerhin gar nicht die Frage aufkommen ließ, ob sie einen BH trug.
Sie kramte in ihren Taschen und stellte erstmal 2 Bierflaschen und 2 kleine Flachmänner auf meinem Autodach ab.
„Weissdu, manchmal is es einfach schwer, jemanden zum Reden zu finden. Ich will doch VERDAMMT NOCHMAL nur, dass jemand mit mir redet!“
Au Backe! Ich ziehe die Irren ja mal wieder an!
„Du, ich bin ja nich immer alleine gewesen. Weissdu, ich war ja auch schon im Knast, ich hab sogar mal 4 Wochen Therapie in der Psychiatrie gemacht…“
Ein großer Schluck aus der Bierflasche lockerte ihre Zunge noch weiter:
„Un es is ja nur so, dass ich… also ich will ja heute nur noch jemanden finden. Is da drin denn noch was los und was? Warum stehst du mit deinem Taxi hier?“
„Naja, ich hoffe eben genauso, dass da drin irgendwas los ist.“
„Ja, aber WARUM STEHST DU HIER?“
„Ich warte auf Kunden. Und da hier einige Leute rein und raus gehen, nehme ich an, dass ich hier Kundschaft bekommen werde.“
„Halt mal!“
Sie versucht mir, die Bierflasche anzudrehen.
„Nee, ich stell sie besser auch hier…“
Mein Dach. Mir ist ja bewusst, dass das Dach meines Autos nicht wirklich in Mitleidenschaft gezogen wird, wenn da jemand eine Flasche abstellt. Andererseits kann ich dann nicht vorrücken, wenn der erste Kollege frei wird – und überhaupt stehe ich nicht auf Bierduschen beim Einstieg…
„Ich denke, wir stellen die besser mal hier auf den Gehweg!“
„Mir egal, ich muss pissen. Sorry kurz!“
Ganz ungeniert zog sie sich die Hose herunter und hockte sich an den nächsten Baum, der bedauerlicherweise keine 2 Meter entfernt stand. Ich bemühte mich also – während ich die Flaschen vom Dach auf den Gehsteig verfrachtete – möglichst nicht weiter ihre Intimsphäre mit meinen Blicken zu verletzen.
Die Szene dauerte aber auch nicht lange, und so hatte ich sie kurz darauf wieder neben mir stehen, äußerst verärgert über meine Alk-Umpflanz-Aktion.
„Ich muss dir eine Geschichte erzählen.“
„Bitte!“
(Fuck, hab ich das wirklich gesagt?)
„Es is, also die Geschichte is eigentlich ziemlich traurig. Aber ich weiss nich, wem ich sie sonst erzählen kann.“
„Hmm… das ist doof. Aber ich höre ja zu!“
„Ja, also die Geschichte. Das is weil wegen die Geschichte. So. Und das is so…“
Sie bricht in Tränen aus und kauert sich dabei an mein Auto. Sie jammert noch desöfteren, dass sie etwas zu erzählen hätte, arg viel mehr an Inhalt höre ich indes nicht. Inzwischen fährt der erste Kollege weg und ich möchte gerne seinen Platz übernehmen.
„Hey, ich höre mir die Geschichte gerne an. Aber ich bin ja leider auch zum Arbeiten hier. Ich würde gerne vorrücken“
Sie starrt mich wutentbrannt an, packt ihre auf dem Boden stehenden Alkoholika und… folgt mir. Als ich eine Position weiter vorne angekommen bin, schmeisst sie sich mehr oder minder unfreiwillig gegen das Auto und meint:
„Ich will doch nur wissen, ob da drin noch jemand zum Reden ist…“
„Das kann ich nicht sicher sagen. Da müsste ich lügen. Aber ich vermute: Ja!“
„Weissdu, es is ja nicht so, dass ich dich verführen will. Ich will… obwohl… vielleicht will ich dich ja verführen… ach scheiße!“
„Was ist denn jetzt?“
„Ich, ich… sag mal: Wie kann es eigentlich sein, dass du hier einfach arbeitest?“
„Wie?“
„Wie kannst du den Job hier machen, ohne zu heulen oder einfach mal zuzuschlagen?“
„Ganz ehrlich: Manchmal ist mir durchaus nach Heulen zumute. Aber Zuschlagen halte ich einfach nicht für eine Lösung…“
An diesem Punkt sammelt sie alle ihre Getränke ein und torkelt in die Kulturbrauerei…
Endlich.
Ich bemühte mich also – während ich die Flaschen vom Dach auf den Gehsteig verfrachtete – möglichst nicht weiter ihre Intimsphäre mit meinen Blicken zu verletzen.
Die Frage ist eher, wessen Intimssphäre da verletzt wurde. 😉
Das war ich.
Gruß,
Clemens
Ich wußte gar nicht, dass du auch manchmal vor der Kulte stehst.
Dann geh ich das nächste Mal Taxiseitig raus (aber keine Angst, ich hab immer nen BH an).
Alter Schwede! Sowas kenn ich, man will weg, aber kann einfach nicht. 😀 Hast Dich aber wacker geschlagen… Und immerhin VERDAMMT NOCHMAL mit ihr geredet. 😉 Denn dass sie für die Nacht noch jemanden gefunden hat, wage ich mal zu bezweifeln.
Soviel Geduld bringe ich selten auf, Respekt. Allerdings habe ich eh ein Problem mit Besoffenen, was sicher mit meiner eigenen Geschichte zu tun hat.
Ich werde Dir das dann in aaaaaaaller Ruhe erzählen, wenn wir uns mal wieder am OBF sehen!
😉
Hm,
bedauerlich, dass unsere Gesellschaft so etwas „produziert“. Aber wenn das Leben so einfach wäre wie es scheint – was hätte der Mensch dann noch zu tun?
Gut gemacht. Ich kenne ähnliche Situationen aus dem LEH. Und hoffe, wenn ich in dem Alter bin, nicht so zu werden. Aber gibt es da überhaupt großartige Alternativen?
@Ednong:
Wegen „Und hoffe, wenn ich in dem Alter bin, nicht so zu werden.“: Das Leben zehrt an einem, mitunter sehr heftig, vor allem, wenn Vorbelastungen aus Kindheit und Jugend vorhanden sind.
Mit den Jahren kann man sowas immer schwerer ausgleichen, weil die Energie für „immer nett und fröhlich sein“ und sowieso alles unaufhaltsam aufraucht. Und dann steht so jemand besoffen vor dem Taxi und weiß nicht, wohin mit dem Elend.
Ich nenne solche Erkenntnisse, wie Du sie formulierst, „Zeitmaschine“: Man sieht oder ahnt auf einmal, was aus einem werden kann… oder je nach Alter (dann eben beim Beobachten junger Menschen), wie man mal war. Das kann runterziehen – oder man lernt was und macht was draus.
Das ist auch eine der von Dir erfragten „Alternativen“: Pass auf Dich und die Deinen auf und achte andere, das kann für „das bessere Leben“ entscheidend sein.
(Und: Danke, Du A…. 😉 von wegen „in dem Alter“. Ich bin schon einiges über das von Sash geschätzte Alter hinaus. Mir geht’s insgesamt gut – aber die Einschläge kommen näher, definitiv, überall, gerade in dem Alter.)
@Sash:
Ich hab‘ emotional „Opa erzählt vom Krieg-Woche“, siehe auch meinen romantisch gerührten Ausbruch von gestern nachmittag – ist am Sonntag vorbei, dann wird wieder auf der Höhe der Zeit kommentiert… 🙂
„so etwas“ ist trotzdem ein Mensch.
Ich bedauere den Armen 🙂 Er wollte doch nur mit jemanem sprechen – vermutlich ohne Erfolg (also später noch) 🙂
@Der Maskierte:
Meine sicher nicht. Ich hab schon genügend Leute pinkeln sehen. Vielleicht ist etwas Fremdscham dabei, aber das war es dann auch schon 😉
@Clemens:
Glaub ich nicht. Schon vom Namen her 🙂
@Nick:
Den BH setze ich aber auch voraus! 😀
@Mia:
Ja, mit der Zeit sehnt man sich echt nach Hilfe. Aber zum gesuchten Anhang: Ich hab starke Zweifel, dass die ihre Wohnung noch gefunden hat! Zumindest, wenn sie den Rest auch noch getrunken hat…
@Aro:
Ach komm, sooo viel Zeit hat man am Obf dann auch nicht 🙂
@ednong:
In dem Alter? Naja, bei mir ist es auch noch eine Dekade. Ansonsten: Im Prinzip gibt es ja eine Menge Menschen, die unter Alkoholeinfluss anhänglich und mitteilungsbedürftig werden. Soo weit weg davon war sie ja auch nicht…
@Kommentator:
Ich fand deinen Kommentar sehr schön und passend.
@Martin Laube:
Ich würde den Text nochmal lesen. Ich glaube, er hält noch eine lustige Überraschung für dich bereit 😉
Naja,
dann werd ich das mit „dem Alter“ mal präzisieren:
Ich meinte nicht das (geschätzte) Alter der Protagonistin, sondern das Alter schlechthin. Hätte also dann besser wohl „im Alter“ geheißen – noch konkreter: Rentenalter, Alter in dem du eher alleine lebst, weniger Freunde hast etc.
Und ja, ich bin (und war) auch schon ein Stückchen drüber. Ein großes Stückchen.
@ednong:
Yeah! Eine dreieinhalb Jahre alte Diskussion wieder aufnehmen. DAS hatte ich auch noch nicht. 🙂
Zum Thema: Nun ja, sicher spricht die Statistik da Bände, aber die Einsamkeit ist doch nicht sicher vorherzusehen. Bzw. bei Leuten, die allgemein aufgeschlossen sind auch nicht irreversibel. Ob man dazu aber Taxifahrer so anquatschen muss? 😉
Nein, im Ernst: Es ist ja auch nicht so, dass ich ihr das übel genommen hätte und wenn ich mal getrunken hab, laber ich die Leute auch voll. Und ich stimme dir zu, dass das teilweise gesellschaftlich begründet ist und an sich kein Grund zum Lachen ist. Allerdings ist die Situation sobald man „unfreiwilliges Opfer“ solcher Annäherungsversuche ist, durchaus skurril.
Na klar, immer für eine Überraschung gut 😉 Und wenn du den Link postest, mußt du auch mit Leuten rechnen, die ihn sich anschauen (aka mir) 😉
Das das kurios oder skuril ist, wenn man sich in der Position des Angesprochenen befindet, ist keine Frage. Da stimme ich dir zu. Kenn ich ja wie gesagt aus dem LEH auch. Und klar, ich finde es bedauernswert, weil man sieht, was es für extreme Entwicklungen gibt und an welchen Kleinigkeiten die vielleicht hängen – also, das es sich dahin entwickelt (hat). Und letztlich hält einem das Verhalten anderer immer einen Spiegel vor, weil man nie gefeit ist, auch dort zu landen (gut, einige Extreme kann man vielleicht ausschließen, viele jedoch nicht wirklich).
Und auch bei Leuten, die aufgeschlossen sind, kann es Einsamkeit geben. Sie wirkt sich dann nur anders aus.