Grund zum Heimfahren

Da winkt doch mitten auf der Oranienstraße eine Frau. Winker sind das Salz in der Suppe beim Taxifahren, die unplanbaren Fahrten, der Bonus, die Garanten für den guten Gesamtumsatz und den perfekten Kilometerschnitt. Wenn man für jede Fahrt anstehen müsste, käme man kaum auf 200 € Umsatz pro Schicht.

Was sich also wie der Traum in Hunderter-Grün liest war der Beginn einer Katastrophe.

Die Frau stieg ins Auto und das tat sie, während sie ohne Unterlass brüllte. Sie schimpfte vor sich hin, ganz üble Ausdrücke. Zwischenrein nannte sie mir ruhig „Postbank“ als Fahrtziel und verlegte sich wieder in Schimpftiraden, bei denen mir zusätzlich zu Unerträglichkeit ihrer Ausdrucksweise auch noch aufstieß, dass ich die Hälfte gar nicht erst verstanden habe, weil sie ziemlich grottigen Dialekt sprach.

Zuerst dachte ich, sie wäre sauer, weil der Kollege vor mir sie nicht mitgenommen hat.

Dann dachte ich, sie telefoniert mit einer Freundin.

Dem war aber nicht so.

Ganz offensichtlich litt die Frau schwer unter einer psychischen Störung, und als Laie würde ich sagen, ich hatte es mit einer wunderbaren Paarung aus Tourette und Schizophrenie zu tun. Nach kaum mehr als zwei Minuten war mir klar, dass sie nicht mich anfauchte, sondern… sich selbst. Sie nannte sich selbst „asoziale Hure“, bezichtigte sich einiger wirklich unschöner Dinge, drohte ihrem zweiten Ich mehrfach den Tod an und unterstrich das Ganze mit der ein oder anderen Ohrfeige gegen sich selbst.

Glaubt mir, kein Besoffener bringt einen so in Verlegenheit!

Richtig hart war es allerdings, dass sie gelegentlich dennoch für ein paar Sekunden klar zu sein schien, wo sie mir dann auch freundliche Hinweise zum Fahrtweg machte, nur dass das eben irgendwann unterbrochen wurde zugunsten immer schlimmerer Hasstiraden.

Aber klar: Sie hatte ganz offensichtlich ein Problem, es war nicht einfach eine Unverschämtheit. In solchen Fällen sollte man einfach professionell ruhig und höflich bleiben. Es hilft enorm zu wissen, dass das alles in 5 Minuten vorbei ist, und man sich danach nie wieder sieht…

…aber mein Schutzengel hat wohl Freitags seine Dates und war unabkömmlich. Denn ich hatte die Frau mit 2 Fahrtunterbrechungen eine gute halbe Stunde im Auto und jede Minute war etwa doppelt so schlimm wie die vorherige. Und die erste war schon unerträglich…

Also wenn ich schon – trotz der Wahrnehmung, dass sie nichts dafür kann – drauf und dran bin, sie aus dem Auto zu werfen, dann möchte ich nicht wissen, wie sich ihr Sozialleben sonst so gestaltet. 🙁

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17 Kommentare bis “Grund zum Heimfahren”

  1. Ana sagt:

    ich hab auch keine ahnung, aber…
    tourette is ganz schlimmes ding. aus filmen kennt man, dass die touretteure mal ein „ficken“ oder „scheiße“ einstreuen. aber hier in der nähe wohnt auch ein mann, der meiner meinung nach tourette hat.
    das erste mal als er mir entgegen kam und laut schimpfte „ich bring dich um! glaubst du nicht? ich hab ein messer. zack zack, du wärst nicht der erste!“ hab ich aus conveniencegründen die straßenseite gewechselt. beim zweiten mal wusst ich quasi bescheid und lief mit gesenktem blick an ihm vorüber.. und hatte noch locker 200 meter lang angst, dass er doch ein irrer mit messer sein könnte, der mir grad nachgelaufen kommt.
    im gegensatz zu den meisten andren „behinderungen“ (ist das eine? weiß ich nicht) kann man sich in dem fall eben nicht einreden dass man den betroffenen akzeptiert indem man ihn ignoriert.
    ich stell mir das leben mit solch einer krankheit sehr schwer vor.

  2. Anise sagt:

    Tourette ist schlimm.
    Da mischt sich dann Mitleid mit Ekel, man hat ein schlechtes Gewissen, weiß, dass die Betroffenen nichts dafür können und mag trotzdem nichts mit ihnen zu tun haben.

  3. F_A sagt:

    Ich vermute, die Dame war gerade sehr aufgewühlt und ist nicht 24/7 so laut. Nur dazu, wie das sonstige Sozialleben aussehen kann, Dir hilft das selbstverständlich nicht. Du schreibst doch, Du vermutest auch Schizophrenie, dann muß sie ja ausgesprochen verängstigt auf Dich gewirkt haben.

  4. Ozie sagt:

    Ich hatte neulich einen ähnlichen Fall in der S-Bahn. Eine kleine alte Frau stieg ein und beschimpfte halblaut abwechselnd die anwesenden Fahrgäste oder ihre Familie, die sie einweisen lassen will…
    Das war vor allem heftig weil sie wirklich Fahrgäste konkret beleidigte, aber jeder wusste, dass sie es nicht richtig mitbekommt…
    Da half auch nur 20 Minuten lang warten, bis sie ausstieg.

    Bezüglich deines Fahrgastes hätte ich auch auf Schizophrenie getippt. Wahrscheinlich waren das eigentlich die Stimmen in ihrem Kopf, die sie wegen der krassen Wahrnehmungsstörung laut ausgesprochen hat. Vielleicht hat sie nicht mal wahrgenommen, dass du das mitbekommst, sondern geglaubt, dass die Stimmen weiter nur in ihrem Kopf sind. Aber es würden auch hunderte andere Psychische Störungen passen…

  5. Sash sagt:

    @Ana:
    Ich denke auch, dass es sehr schwer ist. Was mein Fahrgast nun hatte? Ich weiss es ja nicht sicher, ich bin schließlich kein Psychologe.
    Ob man die Betroffenen akzeptiert indem man sie ignoriert? In gewisser Weise denke ich schon. Ich habe z.B. bei der Frau nur auf ihre klaren Aussagen reagiert und hoffe insofern schon, dass sie es – wenn sie es wahrnimmt – „zu schätzen weiss“, dass ich sie ihrer Tics wegen nicht angehe.
    Aber das Fazit muss sie selbst ziehen. Ich hab mich schlicht nicht getraut, sie danach zu fragen.

  6. Sash sagt:

    @Anise:
    Das stimmt schon. Aber ganz ehrlich: Ich denke, ich könnte damit umgehen, wenn ich es vorher wüsste. Bei der Tour hat es mich echt übel erwischt. Klassischer Überraschungseffekt…

  7. Sash sagt:

    @F_A:
    Nein, verängstigt war sie nicht. Es war nur offensichtlich, dass sie aus zwei verschiedenen Positionen heraus gesprochen hat.
    Ich hab hier zugegeben die beiden Krankheiten in einen Topf geschmissen wegen der Symptome, die allgemein bekannt sind:
    Tourette = Schmutziges Zeug unkontrolliert von sich geben
    Schizophrenie = multiple Persönlichkeit
    Das ist zu kurz gegriffen, und das ist mir auch klar, es sollte der Verdeutlichung dienen. Was die Dame wirklich hat: Ich bin kein Profi, ich weiss es nicht!

  8. Sash sagt:

    @Ozie:
    So gesehen trifft Schizophrenie es wohl am besten. Aber ich bin eben kein Profi…

  9. Anise sagt:

    Für eine kurze Zeit kann man bestimmt bei entsprechender Vorwarnung damit umgehen. Aber auf Dauer? Ich könnte es nicht, da bin ich ehrlich.

  10. Sash sagt:

    @Anise:
    Ich muss zugeben: Eine Beziehung könnte ich mir auch nur schwer vorstellen. Ist einfach eine krasse Geschichte…

  11. scf sagt:

    Hallo, nachdem ich in den letzten Tagen mit heller Begeisterung rückwärts durch den Blog lese, drängt mich mein Klugsch..trieb, einen alten Beitrag auszugraben, darunter meinen ersten Kommentar zu setzen (und vielleicht für ein bißchen Entwirrung zu sorgen).

    Vorweg noch: Ich finde diesen Blog spitzenmässig! 🙂 Es ist unheimlich spannend, was Dir beim Taxifahren so an Zwischenmenschlichem begegnet und Du schreibst so herrlich unaufgeregt, enorm sympathisch und humorvoll. Außerdem ist mir ziemlich positiv aufgefallen, dass in diesem Blog bisher nie die Grenze des guten Tons überschritten wurde, was heutzutage nicht unerwähnenswert ist. Ergo: Ich les hier sehr gerne und freue mich auf eventuell erscheinende Bücher, die ich mir sicherlich ebenfalls zu Gemüte führen würde. Nicht zuletzt habe ich hier auch schon entscheidende Dinge gelernt; ich wußte zB nicht, dass man Taxen heranwinken kann (ja, ich bin so weltfremd), die Lichter oben drauf Fackeln heißen und indizieren ob frei oder nicht (diese Frage hätte mich nämlich sonst vom Anwinken abgehalten) und dass es so etwas wie eine Standreihenfolge gibt, sowie in Berlin primär vorn einzusteigen ist. Dein Blog hat also durchaus auch Bildungscharakter!

    So, nun aber zum Thema des Beitrags:
    Zunächst mal: Schizophrenie hat nichts mit multipler Persönlichkeit zu tun sondern ist eine Störung, die ziemlich andere Symptome wie Denkstörungen, Halluzinationen und soziale Isolationstendenzen aufweist. Wiki kann das wesentlich besser beschreiben als ich hier mal eben, aber diese Verwechslung wird so ca. von 99% all derjenigen, die das Wort hören, begangen (Übrigens auch nicht zu verwechseln mit schizoider Persönlichkeitsstörung oder der wieder anderen schizotypischen P-Störung ;)).

    Um das, was Du da erlebt hast zu erklären, „reicht“ das Tourettesyndrom alleine auch schon aus. Bei Tourette funktionieren bestimmte Hirnareale anders als sie eigentlich sollen. Man kann sich das als Störsignale vorstellen, die in den „normalen“ Ablauf eingreifen. Es gibt faszinierende Ansätze (wobei Ansätze schon untertrieben ist, ist eigentlich gängige Praxis), mittels Hirnschrittmachern diese Fehlaktivitäten einzudämmen. Jedenfalls zeigt dieser Wechsel von normaler Kommunikation und „Ausrastern“ ziemlich deutlich, wie man sich diese Fehlimpulse vorstellen muss (Es gibt auf youtube auch ein paar Dokus dazu, weiß nicht, wie es hier mit Links steht, aber bei einer kann man zB sehen, wie sich das Ausschalten eines Schrittmachers auswirkt). Das kann echt beängstigend wirken, aber die Menschen mit diesem Syndrom sind dahinter trotzdem „klar“ im Kopf. Auch Ticks und zwanghafte Selbstverletzung können dazugehören – die Betroffenen können das nicht unterbinden, der Körper verselbstständigt sich quasi in den Momenten, während diejenigen das hilflos mitansehen müssen.

    Wie man damit umgehen soll, ist sicher von Person zu Person verschieden, aber gerade da die Leute ja nicht plemm sind, würde ich es wohl mit einem direkten Ansprechen versuchen und signalisieren, dass man davon schonmal gehört hat. Vielleicht wär auch ne offene Frage, wie und ob man reagieren soll angebracht..? Ich würd mich damit allerdings wohl auch schwer tun. Was mir jedoch wichtig zu unterstreichen ist, ist dass von Leuten mit Tourette keine „Gefahr“ ausgeht und sie nicht „geistesgestört“ sind, sondern hinter den Tics und Ausrufen ganz normale Menschen hocken.

    So, ich hoffe, dass kommt nicht zu know-it-all mässig rüber, aber vielleicht sind die Infos ja für den einen oder die andere, öhm, informativ.

    Viele Grüße und bitte mach so toll weiter! 🙂

  12. Sash sagt:

    @scf:
    Zunächst einmal danke für das ellenlange und schöne Kompliment. Das Wort „unaufgeregt“ so angenehm unterzubringen: Respekt!
    Dass Schizophrenie nicht mit multipler Persönlichkeit gleichzusetzen ist, ist mir im Grunde bekannt. Ich habe es hier auch eher so populär gebraucht, wie es ja meist dank den Medien verwendet und damit verstanden wird.
    Aber ich finde deine Erklärung dazu klasse, vielleicht hilft die Info wirklich mal jemand anderem, der sich irgendwie hierher verirrt. Danke!

  13. elder taxidriver sagt:

    Man könnte , so wie den Kaupert- Straßenführer , eigentlich immer das kleine ‚Glossar psychiatrischer Erkrankungen, ICD-10‘
    mit sich führen. Da ist alles ganz kurz und prägnant charakterisiert. Aber wenn die Zahl der Fehldiagnosen schon
    bei Ärzten sehr hoch ist, kann man sich leicht vorstellen, wie groß sie bei Laien ist, man muss also sehr vorsichtig
    sein, mit Vermutungen.. Aber erlaubt sind sie schon, gibt keine Punkte in Flensburg dafür..

  14. elder taxidriver sagt:

    Und so wie ’scf‘ lese ich auch mit Vergnügen rückwärts. Dabei kann gottseidank
    nicht soviel passieren wie beim Rückwärtsfahren..

  15. Bernd K. sagt:

    Respekt für deine professionelle Einstellung auch in diesem Fall!
    Die beiden Sätze von „scf“ mit „unaufgeregt“ und „gutem Ton“ unterschreibe ich sofort. GNIT ist nicht ohne Grund der einzige Blog den ich wirklich regelmäßig lese. Danke dafür!

  16. Bernd K. sagt:

    …Und da ich auf’s regelmäßige Rückwärtslesen verzichte, werde ich immer mal wieder von älteren Beiträgen überrascht 😉

  17. Sash sagt:

    @elder taxidriver:
    Ja, aber am Ende brauchen wir noch den Duden, den Michel-Katalog und das Köchel-Verzeichnis 😉
    Aber heute haben wir ja das Internet, das all-in-one-Verzeichnis.
    Und dennoch Vorsicht beim Rückwärtslesen. Die Qualität der Texte lässt mit der Zeit nach.

    @Bernd K.:
    Aber ich muss zugeben, dass es sich im Nachhinein locker schreibt, „professionell“ zu sein. Natürlich war ich alles andere als locker, war ängstlich, unangenehm berührt und unsicher. Dass man den Kunden immer entgegenzukommen versucht, ist klar, aber leicht fällt es einem in solchen Extremfällen natürlich nicht. Aber es war mir wichtig, dass am Ende im Blog nichts von einer „stressigen asozialen Alten“ steht, die sie in manchen Momenten leider auch für mich war – mir fehlt da auch die Erfahrung im Umgang mit den Menschen.
    Aber ich danke für das Kompliment, sowas baut immer auf 🙂

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