Eierlikör

Ich selbst werde zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung wahrscheinlich gerade dabei sein, einen ordentlichen Rausch auszuschlafen und einen unschönen Kater auszubrüten.

Welcher Zeitpunkt könnte passender sein, um zurückzublicken auf eine Fahrt in den letzten Wochen, die eindrucksvoll gezeigt hat, welch kuriose Auswirkungen Drogen haben können.

Zum einen musste ich auf der Oberbaumbrücke recht scharf bremsen, da ein junger Mann die Straße in bedenklichem Zustand zu überqueren gedachte. Er hatte zwar vor, mich zunächst passieren zu lassen, aber seinen Bewegungen nach war das für mich zu riskant. Ein Ausfallschritt seinerseits, und er wäre mir direkt vor dem Auto gelandet, und so hielt ich und gab ihm ein Handzeichen, er möge gehen.

Er war reichlich irritiert, wirkte fast schon verärgert darüber, dass ich seiner Koordinationsfähigkeit ganz offensichtlich nicht traute, schwang sich dann aber dennoch mit seiner Eierlikör-Flasche über die Straße und erreichte den Gehsteig unbeschadet.

Das ist Nachts in Berlin keine seltene Geschichte. Man tut als Autofahrer wirklich gut daran, mit wachsamem Blick durch die City zu cruisen. Dann ist das halb so wild, und man erlangt mit der Zeit eine erstaunliche Mildtätigkeit gegenüber Drogenopfern und Verkehrssündern aller Art. Sehr hilfreich bei dem Job.

Was die Fahrt aber so absurd machte, war die Tatsache, dass mein Fahrgast – ein junger Mann, den ich am Matrix aufgegabelt habe – mit der Geschichte gar nicht klar kam. Zunächst wirkte auch er eher verärgert (allerdings über den Typen, der da so frech auf der Straße rumsteht), dann aber hat sich seine Laune schlagartig verbessert.

Die Tatsache nämlich, dass der Kerl Eierlikör dabei hatte, hat ihm sehr zu schaffen gemacht. Minutenlang hat er sich kaputt gelacht, dass es tatsächlich Leute – und dann auch noch unter 60 – gibt, die sich tatsächlich mit Eierlikör betrinken. Er kam überhaupt nicht mehr klar, und bis zum Ende der Strecke (war ’ne ganz ordentliche Tour) gab es kein größeres Thema mehr als dieses. Selbst als ich eine Anekdote über andere Betrunkene erzählt habe, gelang es ihm nicht, am Ende auf den Satz zu verzichten:

„Und dann ist er wohl heim und hat sich (*prust*) ne Flasche Eierlikör, Eierlikör!, geschnappt. Haha…“

Schon interessant, was einem plötzlich witzig vorkommen kann…

Zielgruppen-Fail

Berlin 2010. Der Winter war dieses Jahr hart und entbehrungsreich. Zusätzlich zu den üblichen Winter-Depressiven sind in diesem Jahr auch noch gelegentlich Personen verstorben, weil sie die unerbittlich zwei Monate überdauernde Eisdecke über der Stadt nicht sicher zu überqueren wussten. Die Polizei wird bis in den Sommer hinein noch damit beschäftigt sein, die Überreste von Rentnern aus einsamen Wohnungen zu bergen, die verhungert sind, weil sie sich bei minus fünfzehn Grad nicht mehr vor die Türe getraut haben.

Die Nacht ist einsam, es ist niemand auf der Straße. Dabei nähert sich der Kalender unaufhaltsam dem Frühlingsanfang. Die Temperaturen sind längst wieder für ein paar Stunden täglich im Plus-Bereich, nur die Nacht ist noch kalt und mörderisch. In den einsamen Friedrichshainer Abendstunden wirkt die Welt noch wie schockgefrostet. Keine Fußgänger weit und breit, und von den wenigen Zügen, die den harten Winter trotz der Sparmaßnahmen der Bahn überlebt haben, taucht keiner im Osten der Hauptstadt auf.

Das Fernsehen lehrt uns, dass in so einer Situation gerne lose Dornenbüsche durch die Prärie kugeln, aber die wenigen Dornenbüsche in Berlin sind entweder tot oder vom Resteis noch zu schwer zum Kugeln. Ein paar Taxifahrer halten am leblos wirkenden Beton-Gerippe des Bahnhofes ihre Wacht wie die Aasgeier. Stets mit wachem Blick, die Zigarette lose im erschlafften Mundwinkel hängend, verfolgen sie die Reste des Zivilisationsmülls, der in solch schweren Stunden die Dornenbüsche ersetzt.

Im Wissen, jegliche Bewegung würde die Stille jäh zerreissen, schweigt die Welt sich aus und nur in irgendeinem fahl beleuchteten Büro sitzt ein einsamer Praktikant in der Duden-Redaktion und ändert als vermeintlich letzter Überlebender den Eintrag zu „Apokalypse“ in die Vergangenheitsform um.

Als sich gerade eine Wolke vor den blass anmutenden Mond schiebt, gleitet eine Schiebetür des Ostbahnhofs auf, als sei es das selbstverständlichste der Welt. An diesem Märzabend um 22 Uhr. Durch selbige schleift sich alsbald ein etwas kleinwüchsiger aber nicht schlecht gebauter Mensch südländischer Herkunft. Der lange schwarze Mantel umweht ihn mystisch, es bleibt ihm nichts als ihn mit den nackten Händen an sich zu pressen, um nicht den letzten Funken Körperwärme zu verlieren.

Die Taxifahrer schrecken aus ihrer Lethargie hoch. Manch einer murmelt sein Mantra: „Komm zu mir, komm zu mir…“ Weniger actionorientierte Exemplare setzen ihren sorgsam vor dem Spiegel geübten Bruce-Willis-Blick auf und konzentrieren sich ganz auf die Ablehnung einer zu kurzen Fahrt.

Ganz hinten in der Schlange realisiert Sash, dass er offensichtlich zu viele Thriller liest, weil er erschrocken ist, dass die unheimliche Gestalt sich ihm unverdrossen nähert. Sie blickt sich um, scheint Angst zu haben. Was? Was wird dieser traurige Haufen Mensch mir wohl antun wollen, fragt Sash sich.

Die Antwort ist grausam.

Das Dunkel der Nacht legt sich für einen Moment tiefer über das Auto von Sash, als der Fremde die gespenstisch anmutende und tote Fassade des Bahnhofs mit seinem Schatten schluckt. Die Augen kommen näher, sie sehen sich panisch um. Was wird das? Waffen? Was kann man noch tun? Die Nacht würde jeden Schrei verschlucken und der eisige Wind keine Spuren hinterlassen, wenn nun jemand sterben würde. Der Fremde öffnet langsam den Mund, blickt Sash an und sagt:

„Ey, ‚absch hier neue Sonnenbrille! Will’sch du kaufen?“

Nee, sorry!

Der missratene Abend des Mark X.*

*Name geändert

Das erste Mal gesehen habe ich ihn, als ich vor dem Matrix gewartet habe. Er kam vom Süden her ange… naja, schwankt und lief mit einer beachtenswerten Anzahl an Ausfallschritten am Matrix und damit an mir vorbei. Ich hab mir noch gedacht:

„Wow, das is’n Pegel, der sicher schon keinen Spaß mehr macht!“

Für mich folgte alsbald eine Fahrt, und dabei sah ich ihn wieder: Auf der Warschauer Brücke übers Geländer hängend. Offenbar hat er seinen Mageninhalt auf den 7 Meter tiefer liegenden Bahnsteig verfrachtet. Von meiner Tour zurückkommend sah ich ihn dann das dritte Mal. Er lag am Boden auf der Brücke, und ein Mann stand daneben und winkte mich ran. Ein Mensch, offenbar aus einem der östlichen Nachbarstaaten, fragte in mehr oder minder gebrochenem Deutsch, ob ich die Notrufnummer kennen würde.

Ich hab dann quasi erstmalig in meinem Leben freiwillig die 110 gewählt und den Cops Bescheid gegeben, dass hier auf der Warschauer Brücke einer Hilfe braucht. Dieser werte Herr war nämlich nur zeitweise ansprechbar, aber immerhin hat er seinen Namen und seine Adresse wiederholt preisgegeben. Inklusive Details wie „Zweiter Aufgang, da gibt es zwei Aufgänge…“ Sogar den Namen seiner Freundin wusste er noch. Dass er mir unterstellte, ich hätte sie gefickt, habe ich aufgrund seines Zustandes sogar wohlwollend zur Seite schieben können. Überhaupt habe ich öfter mit dem Gedanken gespielt, ihn ins Taxi zu packen, aber der wiederholte Versuch seinerseits, Flüssigkeit über den Mund abzusondern, sowie die Gefahr, dass er bei falscher Körperlage daran ersticken könnte, haben mich davon abgehalten. Das wäre im Übrigen bei weitem die beste Fahrt der Schicht gewesen, wenn die Adresse stimmt…

Aber so haben wir auf die Cops gewartet, die auch keine 5 Minuten später da waren. Beachtlich war die Reaktion auf den ersten Grünen, der ihn packte, aufrichtete und meinte:

„Halloho! Berliner Polizei hier! Was ist los? Zuviel getrunken?“

Die war nämlich folgende:

„N‘ bisschen!“

Er gab zu, nicht mehr aufstehen zu können und bat darum, heimgebracht zu werden. Auf die Aussage des Cops („Hör mal, wenn wir das machen, dann wird das teuer!“) konnte er immerhin sagen:

„Des is scheißegal…“

Naja, mich haben die Cops dann alsbald entlassen, und somit war die Sache für mich vorbei. Trotz eigenem Verschulden hoffe ich mal, dass der Kerl gut heimgebracht wurde, und die Rechnung nicht zu immens war.